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Bretthart aus Beesenstedt

Von STEFFEN KÖNAU 19.10.2009, 17:24

BEESENSTEDT/MZ. - Sie kamen unerkannt und blieben unentdeckt: Sechs Herren mit viel Gepäck trugen Gitarren und Verstärker in das Saalekreis-Schloss Beesenstedt, wochenlang dröhnten später schwere Metall-Riffs aus dem Gemäuer. Rammstein, Deutschlands erfolgreichste Rockband, hatte die abgelegene Immobilie zum Proberaum für die Arbeit an ihrem sechsten Album umfunktioniert. "Matratzen rein, damit es keiner hört", lächelt Schlossbesitzer Armin Mey, der schon lange mit den Bandmitgliedern befreundet ist, "und selbst beim Bäcker hat sie keiner erkannt."

Nur auf dem neuen Werk sind Sänger Till Lindemann, die Gitarristen Richard Kruspe und Paul Landers, Bassist Oliver Riedel, Schlagzeuger Christoph Schneider und Keyboarder Christian "Flake" Lorenz nun doch wieder die teutonischen Testosteron-Titanen. "Liebe ist für alle da" heißt die Sammlung von wie immer elf neuen Stücken, gebastelt aus Selbstzitaten und Augenzwinkern.

Rammstein entwickeln sich mit der Geschwindigkeit eines Gletschers weiter. Der Markenkern aus Donner-Rock und kantigem Gesang bleibt, dazu kommen hier orchestrale Arrangements, elektronische Beats, gelegentliche Akustikgitarren und ein Till Lindemann, der unverstellter singt als je zuvor. Das "Rammlied" gibt die Richtung vor: Tobende Trommeln, Violinen, Gewittergitarren. Lindemann gibt den gregorianischen Chorsänger. Es dröhnt so schön und mit "Ich tu dir weh" gibt es auch keine Missverständnisse mehr. "Bei dir hab ich die Wahl der Qual / Stacheldraht im Harnkanal", fantasiert sich der Mann mit dem rollenden R in die Parallelwelt von Schmerz und Sado-Maso-Verzückung. Von wegen Liebe! Auch "Waidmanns Heil", angemacht mit echten Waldhornbläsern, geht lieber ein "Kahlwild jagen" als mit dem Mainstream kuscheln.

Anzunehmen, dass das Sextett mit Wurzeln im DDR-Untergrund sehr großen Spaß hat, wenn Texter Till Lindemann seine bizarren Poeme auspackt. Widmete der frühere Leistungsschwimmer sich zuletzt bereits Themen wie sexuellem Missbrauch oder Kannibalismus mit der Sensibilität eines Schrubbers, nimmt er diesmal das Drama um den Inzestvater Fritzl als Steilvorlage für ein Lied. "Wiener Blut" beginnt als Walzer am Spielzeugkeyboard: "Komm mit mir komm auf mein Schloss / da wartet Spaß im Tiefgeschoss". Anschließend brüllen die Gitarren wie Alarmsirenen, Lindemann orgelt "Willkommen in der Dunkelheit".

Schwer zu sagen, was hier noch provokatives Puppenspiel und was schon Persiflage ist. Als Promotion für "Pussy", die erste Single, drehten sie einen Porno, den kein Kanal je senden wird - aber senden muss ihn ja auch niemand. Näher an großer, origineller Pop-Kunst war lange niemand. "Dieses Video ist ein Meilenstein", findet Paul Landers, "wir haben ein Video gemacht, das man nicht gucken kann". Über umstrittene Zeilen wie "Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr" könne er sich im übrigen "beömmeln".

Das Geheimnis ist, dass Rammstein daraus nie ein Geheimnis gemacht haben. Das alles ist nur so ernst gemeint wie die Masken von Kiss oder das Kunstblut von Tarrantino. Richtig Spaß aber machen Stücke wie die Finanzkrisen-Moritat "Mehr" und die Brecht-Adaption "Haifisch", wenn der Hörer sie ohne solche Hintergedanken konsumiert: Dröhnende Hymnen, die das Dunkle beschwören wie ein Roman von Stephen King oder ein Diamantenschädel von Damien Hirst.