Blindenfußball Blindenfußball: Ballgefühl im wahrsten Sinn

Stuttgart/dpa. - Denn die anderen Kicker auf dem Spielfeld sehen ihngenauso wenig wie er sie. Mulgheta rennt weiter, schießt - doch derBall landet im Aus. Die Feldspieler erfahren es erst, als derSchiedsrichter laut trillernd pfeift. Neben den beiden Torhütern istder Referee der einzige auf dem Platz, der nicht blind ist.
Bei diesem Spiel der Blindenfußball-Bundesliga in Stuttgartherrschen für die Kicker auf dem Kunstrasen erschwerte Bedingungen.Die Spielfläche ist voller gelbem Sand. Regen hat ihn aufquellenlassen, wie eine schmierige Schicht überzieht er den Platz. Wäre derBall nicht mit Rasseln gefüllt, würden die Stuttgarter Kicker undihre Gegner von der SG Berlin/Würzburg ihn gar nicht wahrnehmen. Dieacht Spieler (es sind weniger als beim regulären Fußball) stehenunter größter Anspannung - heftiges Atmen und manchmal auch einFluchen sind auf dem 20 mal 40 Meter großen Feld viel besser zu hörenals auf einem normalen Platz.
Das Spielfeld braucht Akustik
«Die Akustik ist das Allerwichtigste, ich muss den Raum abschätzenkönnen, der um mich ist. Wo ist der Guide, wo das Tor», sagt «Mulle»,wie Mulgheta von allen gerufen wird. Die Guides können sehen, stehenhinter dem Tor des Gegners und rufen Anweisungen, damit die Spielerüberhaupt einen Angriff starten können. «Heiß, heiß» schallt es, wenndie Stuttgarter Spieler nah am gegnerischen Tor sind.
Klar läuft das Blindenfußball-Match nicht so flüssig wie einLänderspiel mit Ballack, Podolski und Co. Immer wieder pfeift derSchiedsrichter die Spieler zurück, und auf dem seifigen Rasen treffendie Feldspieler nicht jedes Mal den Ball. Nie wirkt es jedochunbeholfen. Oft staunen die Zuschauer, wie um den Ballbesitz gekämpftwird oder wie sich Spieler wütend gegen die hohen und stabilenMetall-Banden werfen, wenn ein Zuspiel nicht geklappt hat. Damitmachen sie ihrem Unmut besser Luft, als wenn sie sich nur auf denRasen werfen würden oder eine Handbewegung machen. Denn das sieht jakein Mitspieler.
Auch Mulgheta, der afrikanischer Abstammung ist, gelingt im erstenSpiel des Tages kein Tor, obwohl er zu den besten deutschenBlindenfußballern gehört und bei den Torjägern die Nummer zwei ist.«Ich bin noch etwas nervös», sagt er nach dem Abpfiff der Partie, diezweimal 25 Minuten gedauert hat und für den Tabellenführer MTVStuttgart nur mit einem 1:0 endet. «Aber heute Abend wird es besser»,verspricht er. An einem Spieltag der Blindenfußball-Bundesliga könnenauf ein Team bis zu drei Begegnungen zukommen.
Mehr Selbstwertgefühl durch Sport
«Als ich vor zehn Jahren erblindet bin, war es erst mal vorbei mitSport», sagt Mulgheta. Er war 20 Jahre alt und stand zwei Tage vorseiner Prüfung zum Einzelhandelskaufmann, als er am 3. Oktober 1998bei einem Autounfall nicht nur sein Sehvermögen verlor. «Nach einemhalben Jahr Krankenhaus wog ich unter 60 Kilogramm.» Und das beieiner Körpergröße von 1,85 Meter. Auch das Selbstbewusstsein desjungen Mannes, der schon vor dem Erblinden ein guter Fußballer war,litt schwer.
Noch heute zeugen mehrere große Narben im Gesicht des 30-Jährigenvon jenem Tag, der sein Leben radikal veränderte. «Was mich dann bishierher gebracht hat, waren mein sportlicher Ehrgeiz und mein Humor»,sagt Mulgheta und lacht. «Was sollte ich sonst machen?» Statt alsEinzelhandelskaufmann am Computer zu arbeiten, lernte er in einerPflege-Einrichtung den Umgang mit Zweigen und Ruten - alsKorbflechter.
Doch so gut seine Fingerfertigkeit ist - derzeit fesselt ihn einanderer Job. «Ich arbeite ich auch in einem Dunkelrestaurant»,erzählt Mulgheta. «Das ist eine Aussicht für mich», sagt der 30-Jährige und macht dabei unbewusst deutlich, wie viele täglichbenutzte Wörter untrennbar mit dem ersten Sinn verbunden sind.
Ein neues Selbstwertgefühl brachten ihm auch seine Erfolge imFußball. «Die Leistung und die richtige Einstellung müssen natürlichauch dabei sein, das ist die halbe Miete», sagt der ehrgeizigeStürmer. Sie werden auch im Spiel gegen die SG Berlin-Würzburgbelohnt: Einen Acht-Meter-Strafstoß darf natürlich «Mulle» ausführen.Diese Strafe gibt es ab dem vierten Foul eines Teams bei jedemweiteren Regelverstoß. Am häufigsten greift der Schiedsrichter ein,wenn ein Angreifer nicht oder zu aggressiv «Voy» ruft.
Beim Strafstoß wird deutlich, wie schwierig der Fußball «imDunkeln» für die Spieler ist. Jule Hallanzy ist ein Guide derStuttgarter. Sie pendelt zwischen den Seitenpfosten des Tors, das voneinem Sehenden oder Sehbehinderten gehütet wird, der sich aber nichtaus der zweimal drei Meter kleinen «Bude» heraus bewegen darf. Sonstwären Tore unmöglich.
«Links» ruft Hallanzy und es knallt laut und metallisch, als siemit einer Plastikflasche gegen den vom Spieler aus linken Pfostenklopft. Dann rennt sie auf die andere Seite und wiederholt dies fürden rechten Pfosten. Zurück in der Mitte hinter dem Tor schreit sie«Mitte!». Mulgheta richtet die Kopf in Richtung Tor, lauschtkonzentriert und schießt den Ball dann mit viel Kraft - doch derzischt knapp über die Latte hinweg.
Erleichterung bei den Gegnern. Denn der blitzschnelle 30-Jährigeist gefürchtet, schließlich hat er schon vor seiner Erblindungjahrelang Fußball gespielt. «Die meisten in unserer Mannschaft sindnicht von Geburt an blind», sagt Ulrich Pfisterer, der Trainer desMTV Stuttgart und der Blindenfußball-Nationalmannschaft. Wer blindgeboren ist, für den sei es extrem schwierig, ein Ballgefühl zuentwickeln.
Blindenfußball auf dem Vormarsch?
In der deutschen Liga dürfen sogar Männer und Frauen mitspielen,die einen kleinen Rest Sehvermögen haben. Aber die Chancengleichheitist garantiert, erklärt Pfisterer und deutet auf die «Eye-Pads» -eine Art Augenpflaster, das jeder Spieler trägt. Und dieSchaumstoffringe und Polster, die viele wie ein Geweih tragen? «Eskann manchmal ziemlich hart zur Sache gehen», sagt der Trainer geradein dem Moment, als ein dumpfer Knall die Zuschauer zusammenzuckenlässt. Einer der blinden Spieler ist mit voller Wucht auf den Rückengekracht. Ein Schiedsrichter hilft ihm auf und das Spiel geht weiter.
Wie attraktiv ist der Blindensport für die sehenden Zuschauer?«Ich glaube, das hat richtig Potenzial», gibt sich Pfistererüberzeugt. «Schließlich stehen wir auch noch ganz am Anfang», sagtder ausgebildete Behindertensportlehrer. «Wir sind noch eine rechtkleine Truppe.» Erst 2006 startete der Blindenfußball in Deutschland,als zur Fußball-Weltmeisterschaft ein internationales Turnier inBerlin veranstaltet wurde. Die Bundesliga, in der derzeit neun Teamsspielen, begann im März 2008 ihre erste Saison. Südamerika gilt alsHeimat der Sportart - in Brasilien wurden in den 1960er Jahren dieersten Spiele ausgetragen.
«In Spanien haben einige Spiele mehrere tausende Zuschauer», sagtPfisterer. «Fußball ist ja eine Religion in Deutschland, wie inBrasilien oder anderswo auch. Die Frauen sind Weltmeister, die Herrenauch nicht schlecht.» Er habe auch an seine Mannschaft hoheErwartungen. «Das ist nur 'ne Frage der Zeit, wann wir mit Brasilien,Spanien und anderen aufschließen.»
Der 57-Jährige setzt ganz auf die Leistung seiner Nationalspieler- vor allem auf Mulgheta und Spieler wie Alex Fangmann. Pfisterer unddas Nationalteam haben Anfang Juli im französischen Nantes bei derEuropameisterschaft immerhin den fünften Platz erreicht. «Aber daswar kein einfaches Turnier, wir haben schließlich in einer Gruppe mitGroßbritannien, Frankreich und Italien gekämpft.» In diesen Ländernhabe der Blindenfußball eine zum Teil langjährige Tradition.
Mulgheta träumt von der Weltmeisterschaft
«Der dritte Platz bei der EM, das wär' ja was, dann würden wir unsfür die Weltmeisterschaft qualifizieren», sagt «Mulle». Nun, es nichtganz geklappt. Dennoch war der aus Tübingen stammende Torjäger beider EM wie in der Bundesliga ein kleiner Star. Die FilmstudentinLinda Neef hat ihn acht Monate lang begleitet und einenDokumentarfilm über den 30-Jährigen gedreht. «Er ist unglaublichselbstbewusst, er ist eitel, und er ist sehr aktiv», beschreibt die26-Jährige den blinden Fußballer. Sein Selbstvertrauen, sein Mut undsein Ehrgeiz hätten sie fasziniert. Doch habe sie beim Filmenzugleich schätzen gelernt, «dass ich sehen kann. Ich weiß, dass esnicht selbstverständlich ist. Dass jederzeit etwas passieren kann,was Dein Leben schlagartig drastisch verändern kann.»
Mulgheta Russom jedenfalls hat mit den Folgen es Unfalls lebengelernt. Und wenn es nun auch nicht zur WM gereicht hat - «Mulle»arbeitet daran, dass der Blindenfußball bekannter wird. «Das wäretoll, wenn wir mal vor einem Spiel des VfB Stuttgart oder so zeigenkönnten, was wir draufhaben.»
Das letzte Match dieses Spieltages der Blindenfußball-Bundesligaendet aber für Mulgheta und seine Mannschaftskollegen enttäuschend:Die Begegnung des MTV mit dem FC St. Pauli kommt nicht über ein 0:0hinaus. Dennoch schlendern Mulgheta und sein Teamkollege VedatSarikaya entspannt in Richtung Kabine. Denn was das VfB-Team auf dergroßen Bundesliga-Bühne nicht geschafft hat, ist den blindenFußballern vom MTV Stuttgart nicht mehr zu nehmen - die deutscheMeisterschaft. Mit fünf Punkten Vorsprung auf den PSV Kölnentschieden sie die Saison für sich.