Alles begann 1991 Ostfriesland - DDR am Samstag: Hinter diesem Länderspiel steckt eine irre Geschichte
Nach der Wende wilderten die Bundesliga-Clubs in Dresden, Berlin oder Leipzig. Nur für Fußballer aus der DDR-Provinz interessierte sich kaum jemand. Das nutzten zwei Amateurclubs aus Ostfriesland.

Emden/dpa - Ein Blick auf den Länderspiel-Plan dieses Wochenendes verrät: Am Samstag spielen unter anderem Finnland gegen die Ukraine, Andorra gegen England - und „Ostfriesland gegen die DDR“.
Unter diesem Namen hat ein Fußballfan aus Emden ein großes Benefizspiel organisiert, das an eine abenteuerliche Geschichte aus der frühen Nachwende-Zeit erinnert: Damals holten die Amateurclubs Kickers Emden und SpVg Aurich mehr als ein Dutzend Fußballer aus der ehemaligen DDR nach Ostfriesland.
Die meisten von ihnen leben als Steuerberater, Supermarktleiter oder Sportheim-Betreiber noch immer dort. Und zwei von ihnen machten sogar eine große Karriere: der Bundesliga-Trainer Steffen Baumgart (1. FC Köln) und der spätere Nationalspieler Jörg Heinrich (Borussia Dortmund).
Steffen Baumgart lernte 1991 in Ostfriesland Westdeutschland kennen
An diesem Samstag treffen sich in Emden alle wieder und spielen gegen eine Auswahl gebürtiger Ostfriesen, zu denen unter anderem der aktuelle St. Pauli-Trainer Timo Schultz gehört. Köln-Trainer Baumgart auf die Frage, was ihn noch mit seiner Auricher Zeit von 1991 bis 1994 verbindet: „Das war meine erste Berührung mit dem Westen - auch wenn es Ostfriesland heißt. Es waren drei super Jahre“, sagte Baumgart der „Ostfriesen-Zeitung“.

Schon kurz nach dem Mauerfall begannen die Clubs der Fußball-Bundesliga damit, die DDR-Oberliga leerzukaufen. Für die Spieler der beiden zweiten DDR-Ligen interessierte sich dagegen kaum jemand. Das war die Chance für die Provinzvereine aus Aurich und Emden, die im Westen zwar nur in der Verbandsliga Niedersachsen spielten, aber beide einen großen sportlichen Ehrgeiz und vor allem zahlungskräftige Förderer hatten.
„Wir wussten ja: Hinter uns ist nur Wasser. Wir mussten uns so oder so ins Auto setzen, wenn wir uns verstärken wollten. Also bin ich einfach losgefahren“, sagte Bernhard Janssen, der damals erst die Kickers und später die Auricher trainierte und noch später mehr als zehn Jahre die Nachwuchs-Abteilung des VfL Wolfsburg leitete.
Aurich und Emden lockten DDR-Fußballer mit Ausbildungsplätzen in den Westen
Janssen fuhr also immer wieder gen Osten in den Jahren 1990 und 1991, er schaute sich Spiele und Spieler in Frankfurt (Oder), in Velten, in Berlin oder Schwerin an. Andere Clubs aus dem Westen taten das auch, aber niemand war so hartnäckig wie Janssen oder die Vertreter der SpVg Aurich. Er fuhr auch zum Training oder traf Spieler wie Jörg Heinrich oder Jörg Müller (beide BSG Chemie Velten) im Café. Und jedesmal wenn einer von ihnen zusagte, war das immer auch ein Argument für andere, ebenfalls nach Ostfriesland zu ziehen.
„Das Gesamtpaket war attraktiv“, sagte Stephan Prause der Deutschen Presse-Agentur. Der 51-Jährige spielte zum Zeitpunkt des Mauerfalls für die Olympiaauswahl der DDR und für den FC Vorwärts Frankfurt (Oder). Doch während das Sportsystem im Osten zusammenbrach, bot man ihm in Emden neben der Spielmacher-Rolle beim BSV Kickers auch einen Ausbildungsplatz und eine Wohnung.
Auch Baumgart arbeitete während seiner Auricher Zeit als KFZ-Mechaniker im „Autohaus am Deich“, der spätere Champions-League-Sieger Heinrich als Bürokaufmann für die Tankstellen-Kette des Emder Vereins-Bosses.
Ost-Fußballer lösten Euphorie in Ostfriesland aus
„Natürlich hatte ich eigentlich andere Vorstellungen und wollte Profi werden“, sagte Prause. So machte er unter anderem ein Probetraining bei Hertha BSC, aber die nahmen lieber Mario Basler. „Am Ende habe ich das Angebot von Kickers angenommen. Es war ausschlaggebend, dass ich genau wusste: Da sind schon Spieler, die ich teilweise aus der Schule kannte. Auf den blauen Dunst wäre ich sicher nicht hier hochgegangen. Ostfriesland lag ja am anderen Ende der Republik.“
So standen in Aurich im 22-Mann-Kader der Saison 1991/92 elf Kicker aus den neuen Bundesländern. Und in Emden brach mit top ausgebildeten Spielern wie Heinrich und Prause und Co. eine Fußball-Euphorie aus. 1991 stieg der Club in die drittklassige Oberliga auf. 1994 schaffte er es in die Aufstiegsrunde zur 2. Bundesliga, in der sich am Ende der FSV Frankfurt durchbiss. Kickers Emden - Eintracht Braunschweig 5:2. Kickers Emden - VfL Osnabrück 3:0. So gingen Spiele damals aus.
Die sportlichen Erfolge erleichterten alles: die Eingewöhnung in einer neuen Welt. Die Akzeptanz unter den Mitspielern. „Ostfriesen werden ja immer als stur und schwierig dargestellt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Emden war fußball-begeistert, wir wurden sehr warmherzig aufgenommen“, erzählte Prause. Auch Heinrich beschrieb das in einem 11Freunde-Interview: „Nicht nur wir waren gespannt auf das Leben im Westen, auch die Ostfriesen waren neugierig auf uns Ossis.“
Vom KFZ-Mechaniker in die Bundesliga: Steffen Baumgart nutzte Ostfriesland als Sprungbrett
Für den 37-maligen Nationalspieler war Emden ein Sprungbrett: 1994 wechselte er zum SC Freiburg in die Bundesliga, 1996 weiter zu Borussia Dortmund, 1998 nach Italien zum AC Florenz. Auch Steffen Baumgart machte nach seiner Zeit in Aurich noch 225 Bundesliga-Spiele für Hansa Rostock, den VfL Wolfsburg und Energie Cottbus.
In der Rückschau fragt sich Stephan Prause manchmal: Hätte er nach den ersten Jahren in Emden auch gehen sollen? Zu Hannover 96? Zum VfL Osnabrück? Doch er gehört zu den vielen „Ossis in Ossiland“ (11Freunde), die dort bis heute geblieben sind. Er baute ein Haus, seine Tochter kam zur Welt, er machte sich als Immobilienkaufmann und Hausverwalter selbstständig. „Bei mir war es nicht geplant, dass ich hier bleibe“, sagte er. „Aber man fasst hier Fuß, man kann hier schön und entspannt leben. Irgendwas muss ja dran sein an Ostfriesland.“