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Ruanda Ruanda: Ein Haus für Josephine

Von PETRA PLUWATSCH 24.09.2010, 16:27

Halle/MZ. - Fred Göricke flucht. "Wo ist das verdammte Wasser geblieben?!" Mit zusammengekniffenen Augen starrt er auf die nur wenige Zentimeter hohen Wasserteiche, die übrig geblieben sind vom aufgestauten Fluss Base. "Da!" Aufgebracht zeigt er auf das Schleusentor. Es schließt nicht richtig, eine Stange scheint verbogen. Schon vor einer Woche hat er die Kooperative gebeten, den Schaden zu beheben. Und - was ist passiert? Nichts ist passiert. "So etwas ärgert mich", schnaubt Göricke, Projektkoordinator der Deutschen Welthungerhilfe in Ruanda, und steigt in seinen Geländewagen.

Roter Staub stiebt meterhoch hinter dem Wagen her, als die Räder sich durch das rissige Erdreich arbeiten. "Muzungu, Muzungu", Weißnase, Weißnase, singt ein Trupp kahl geschorener Jungs und hüpft in ausgelatschten Sandalen neben dem Wagen her. Wir befinden uns im Base-Kiryango-Tal, rund zwei Fahrstunden von Ruandas Hauptstadt Kigali entfernt. Knochentrockene Luft, ein hoher, weißer Himmel. Es riecht nach Staub und Hitze und dem Holz ferner Feuer. Hier, zwischen sanften, lichtgrünen Hügeln, betreut der gebürtige Hallenser das wohl ehrgeizigste Projekt, das die Welthungerhilfe in Afrikas drittkleinstem Staat unterstützt: Aus kaum nutzbarem 350 Hektar Sumpfgebiet wurde dank eines ausgeklügelten Bewässerungssystems ein fruchtbares Tal, in dem Reis, Maniok und Süßkartoffeln wachsen.

Die steilen Hügel sind kunstvoll terrassiert, neue Schulgebäude gebaut. Der ehemalige Sumpf ist in eine Vielzahl von Reisfeldern unterteilt. Seit 2005 trägt das Gebiet den Titel "Millenniumsdorf" und gehört damit zum illustren Kreis von weltweit 15 Orten, in denen die deutsche Hilfsorganisation innerhalb von fünf Jahren exemplarisch die Millenniumsziele der UN zu verwirklichen sucht. Dazu gehören die weltweite Beseitigung von "extremem Hunger und Armut" bis 2015, die Gewährleistung einer "Grundschulbildung für alle Kinder" und die Sicherung der "ökonomischen Nachhaltigkeit".

Kein einfaches Unterfangen in einem Land wie Ruanda, sagt Fred Göricke. Der promovierte Agrarökonom, ein Mann mit blitzblauen Augen und einem Schnäuzer, dessen Farbe den starken Raucher verrät, hat mehr als 40 Jahre Afrika-Erfahrung auf dem Buckel. Die beiden inzwischen erwachsenen Söhne sind in Ländern wie Tansania, Liberia und Simbabwe aufgewachsen. Seit sechs Jahren ist der 62-Jährige in Ruanda stationiert - Ende des Jahres soll seine Dienstzeit im "Land der 1 000 Hügel" zu Ende gehen, und das bedauert er, allen gelegentlichen Misslichkeiten zum Trotz. Seine Liebe zu Afrika ist fast so alt wie Göricke selber. 1948 wird er in Halle geboren. Fünf Jahre später muss die Familie die DDR verlassen: Der Vater war mitmarschiert bei den Protestmärschen am 17. Juni 1953. Dortmund, Recklinghausen, Münster sind die weiteren Stationen eines Lebens, das bis heute von Abschieden und Umzügen geprägt ist. In Bielefeld schreibt Göricke sich in den Fachbereich Entwicklungssoziologie ein, studiert zwei Semester an der Universität von Kampala, der Hauptstadt Ugandas.

Warum gerade Afrika? Göricke zieht an seiner Zigarette. Vor ihm steht ein großes Glas Bier, auf einem Teller dampfen mehrere Spieße mit Ziegenfleisch. Vergessen ist der Ärger über die kaputte Schleuse. Er, der engagierte 68er, habe das Gefühl gehabt, in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas etwas tun zu müssen gegen Hunger und Armut. "Und Afrika liegt ja so so ziemlich vor unserer Haustür." Der schwarze Kontinent soll Göricke nicht mehr loslassen. Nach seiner Promotion hält er es drei weitere Jahre in Deutschland aus, dann geht er wieder nach Afrika. Baut Straßen in Liberia und Simbabwe, beackert Felder in Südafrika, Mosambik und Angola. Im Süddeutschen wartet ein Einfamilienhaus mit 1 500 Elefanten-Figuren auf ihn. Er wohnt dort nur selten.

Nun also Ruanda: zehn Millionen Einwohner, ein gerade wiedergewählter Präsident, Paul Kagame, dem man diktatorische Züge nachsagt, und eine Vergangenheit, wie sie mörderischer kaum sein könnte. Rund eine Millionen Menschen fielen 1994 der tödlichen Jagd der Hutu auf die Tutsi zum Opfer. Das ist 16 Jahre her und traumatisiert die Menschen bis heute, sagt Göricke. Gleich wird er weiterfahren zum Örtchen Gafunzo und den Vertretern der beiden Kooperativen, die das Tal bewirtschaften, vermitteln, was er von der Schlamperei mit der Schleuse hält. "Fünf Tage", wird er drohen, "dann muss das Schleusentor wieder in Ordnung sein, sonst ist die nächste Ernte in Gefahr." Das Problem ist ein grundlegendes. "Die Menschen in Ruanda sind Individualisten und müssen erst lernen, dass sie zusammenarbeiten müssen, um etwas zu erreichen", so Göricke. Schafften sie das nicht, müssten sie eben Lehrgeld bezahlen. "Unser soziales Leben fängt erst allmählich an", sagt auch Josephine Kayifesi, 39 und Mutter von zwei halb erwachsenen Kindern. Sie und Ehemann Dominique Mugwiza, 47, gehören zu denen, die profitiert haben vom Aufschwung im Tal. Beide Eheleute haben sich am Cash-for-Work-Programm der Welthungerhilfe beteiligt und - für knapp einen Euro am Tag - mitgearbeitet am Bau der Kanäle, Deiche und Terrassen im Base-Karyango-Tal. Ein harter Job, Josephine nickt. Doch einer, der sich gelohnt hat. Viele Frauen tragen inzwischen zum Familieneinkommen bei. Das Haus, die Kuh, die Möbel - alles neu dank zweier Einkommen. Unten im Tal bewirtschaftet das Ehepaar zwei Felder, die genug einbringen, um auch die Schwiegermutter und zwei Kinder des Bruders zu ernähren. Stolz führt es den Gast in den Gemeinschaftsraum der Familie. Eine Holzbank, ein Tisch, vier Schemel. Auf dem Boden türmt sich kniehoch ein Berg Reis. Die Wände bestehen aus rotbraunem Lehm, der Boden ist zementiert, das einzige Fenster vergittert. Früher, erzählt Josephine habe die ganze Familie in der kleinen Hütte gegenüber gewohnt. Früher habe das Geld nur für eine Mahlzeit am Tag gereicht, "und manchmal haben wir auch gar nichts gegessen".

Einige Wochen sind vergangen. Alles ist gut: Die Schleuse ist inzwischen - nach einer weiteren kleinen Verzögerung - repariert, die nächste Ernte gesichert, meldet Fred Göricke per E-Mail aus Kigali. Ja, er wird es vermissen, dieses Ruanda.