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Ihr Wochenende mit der Mitteldeutschen Zeitung Über den Gartenzaun: Wie einen Reporter eine alte Geschichte einholt

11.07.2025, 08:27
Frank Klemmer ist Leiter des Regiodesks Salzland, zu dem die MZ-Lokalredaktionen in Aschersleben und Bernburg sowie die der Volksstimme in Staßfurt und Schönebeck gehören.
Frank Klemmer ist Leiter des Regiodesks Salzland, zu dem die MZ-Lokalredaktionen in Aschersleben und Bernburg sowie die der Volksstimme in Staßfurt und Schönebeck gehören. (Grafik: Tobias Büttner)

wissen Sie eigentlich, dass ich Sie darum beneide, dass Sie von hier sind? Wieso genau? Na gut, da fallen mir nach drei Jahren von „draußen nach drinnen“ immer noch genug Orte ein, an denen ich noch nicht gewesen bin. Und um die man die Menschen hier durchaus beneiden kann.

Denn Sie haben das ganze Welterbe zum Beispiel ja schon immer irgendwie vor der eigenen Haustür. Und leben dort, wo andere Urlaub machen – und aus dem Staunen nicht herauskommen. Wer braucht da schon noch die A 9, um schnell nach Norden oder Süden zu verschwinden!?

Wie schön es im ganzen Land wirklich ist und was es dort vor allem für Familien zwischen Arendsee und Zeitz alles zu entdecken gibt – gerade jetzt mitten in den Ferien – das haben Kollegen aus dem ganzen Land übrigens auch in diesem Sommer wieder für Sie zusammengetragen. Es sind tatsächlich inzwischen auch ein paar Tipps von mir dabei.

Wer also die kommenden Wochen noch nicht komplett verplant hat, könnte sich noch mal ein paar Anregungen holen, was Familie in den Ferien noch machen kann: 147 Abenteuer direkt vor der Haustür stehen zur Auswahl.

Eine alte Geschichte ist wieder da

Der Grund, warum ich etwas neidisch auf Sie bin, ist allerdings sehr viel ernsthafter. Ich beneide sie nämlich – auch nach drei Jahren „von draußen nach drinnen“ – gerade besonders, dass sie von hier sind und nicht von „da“.

In den Schlagzeilen der vergangenen Woche erreichte mich nämlich ein langer Schatten aus der alten Heimat: ein Fall, mit dem ich damals schon beruflich zu tun hat und der nun erneut Wellen schlägt. Es geht um einen katholischen Pfarrer, der wegen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden war.

Auf die rheinische Art: Mit einem Mottowagen wie im Karnveal, gebaut von Düsseldorfs Wagenbauer Jacques Tilly, wurde im Frühjahr noch vor dem Kölner Landgericht auf die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle im Erzbistum aufmerksam gemacht.
Auf die rheinische Art: Mit einem Mottowagen wie im Karnveal, gebaut von Düsseldorfs Wagenbauer Jacques Tilly, wurde im Frühjahr noch vor dem Kölner Landgericht auf die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle im Erzbistum aufmerksam gemacht.
(Foto: dpa)

Jetzt hat das Landgericht Köln entschieden, dass das Erzbistum Köln der Pflegetochter des Mannes kein Schmerzensgeld bezahlen muss, weil der ihren Missbrauch ja nicht „im Dienst“ begangen habe.

Was machen die denn da in meiner alten Heimat, fragen Sie? Sehen Sie, genau das meine ich …

Als der Nachbar am Gartenzaun noch mal nachfragt

Wie gesagt, der Fall hat nicht nur etwas mit meiner „alten Heimat“, sondern auch mit mir selbst zu tun. Ich erinnere mich noch gut, als der Strafprozess vor eben jenem Landgericht begann. Der Fall war durchaus bekannt, als Tatort galt allen aber eine spätere Station des Pfarrers.

Nun durch die Anklage wurde plötzlich öffentlich, dass er vergleichbare Taten schon während seiner Zeit als Pfarrer in der Umgebung von Gummersbach begangen haben sollte – was später vor Gericht auch bewiesen wurde. Dort wiederum wusste deshalb außer ein paar besonders Informierten bis dahin niemand, dass es um genau diesen Pfarrer ging.

Versteckt hinter der Maske: Im Jahr 2022 war der katholische Priester zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden.
Versteckt hinter der Maske: Im Jahr 2022 war der katholische Priester zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden.
(Foto: dpa)

Ich erinnere mich noch gut, wie ich am Tag, nachdem ich genau darüber berichtet hatte, am Gartenzaun auf meinen Nachbarn traf. Obwohl der Name nicht genannt war, wusste der jetzt, wer gemeint war. Und hätte das sich das – weil er ihn von früher kannte – niemals vorstellen können.

Gerade weil der Pfarrer auch als progressiv galt, als nicht so verknöchert wie manch anderer, standen jetzt – nach Bekanntwerden des Prozesses – viele wie mein Nachbar vor dem Trümmerhaufen ihrer Menschenkenntnis: Ausgerechnet der?

Richter im selben Haus, die beeindrucken und beeindruckt sind

Und ähnlich vertraut wie dieser Fall selbst sind mir auch die Flure des Kölner Landgerichts. Das ein oder andere Vorurteil über die große Stadt am Rhein wurde seit dem neuen Urteil wieder hervorgekramt: über Richter, ihre Kammern und ihre mutmaßliche Nähe zum Dom ein paar Kilometer weiter.

Ich muss da nicht in die Bresche springen. Ich könnte aber von vielen Prozessen des Kindesmissbrauchs (ohne Talar) erzählen, über die ich von eben diesem Gericht berichtet habe. So viele aus meinem kleinen Sprengel, der da noch auf der anderen Seite der großen Stadt lag, dass mir damals überhaupt erst bewusst geworden ist, wie nah uns diese Taten sind – immer wieder.

Ein Gericht, viele Fälle: das Landgericht Köln.
Ein Gericht, viele Fälle: das Landgericht Köln.
(Foto: dpa)

Und was sie mit den Richtern machen, die über sie zu entscheiden haben. Die – wie ein Vorsitzender der zuständigen Kammer damals vor fast 20 Jahren in seinem letzten Urteil noch mal predigte – Missbrauchstäter oft genug erst nach zwei Jahren vor Gericht zu sehen bekommen, weil sie aufgrund der Überlastung erst dann einen Termin dafür freihaben.

Und weil Haftgründe nicht vorlagen. Oder eben die Wiederholungsgefahr, die eigentlich greifbar ist, wenn der über 80-jährige Angeklagte später in einem anderen da vor sich hin erzählt, was er alles heute noch so macht, eben erst jetzt zu sehen ist und nicht in der Akte.

Der Richter in diesem Fall, den ich damals begleitet habe, war der Nachfolger des frustriert gegangenen. Und später, viel später sollte er dann auch eben jenen Priester zu zwölf Jahren Haft verurteilen, um den es jetzt im Prozess um das Schmerzensgeld ging. Of­fen­bar waren den Ver­ant­wort­li­chen des Erz­bis­tums Köln wie­der­holt Vor­wür­fe gegen den Pfar­rer zu­ge­tra­gen wor­den. Dennoch be­strit­ten sie schon damals im Pro­zess jede Mit­ver­ant­wor­tung.

Die „Brüdern im Nebel“ gab es nicht irgendwann

Und deshalb ist da eben doch der Talar, der den mit der katholischen Kirche aufgewachsenen Jungen in mir schockiert: Ich erinnere mich gut an Fälle aus diesem Komplex in einer anderen Umgebung, bei denen ich ins Grübeln kam. Ich las von den Tätern und wo sie ihre Taten begangen hatten. Und wann. War ich da nicht genau zu dieser Zeit auf Klassenfahrt in der dritten Klasse?

Beim Rechnen stellte ich fest, wie nah diese Taten der unbefangenen Kindheit gewesen sind, die ich selbst in und um diese Kirche erleben durfte. Das ist nicht irgendwann passiert, sondern in meiner Generation.

Nur wenige Kilometer entfernt: das Erzbischöfliche Haus, der Sitz des Kardinals in Köln.
Nur wenige Kilometer entfernt: das Erzbischöfliche Haus, der Sitz des Kardinals in Köln.
(Foto: dpa)

In einer Kirche, die – wenn sie davon wusste – hinter vorgehaltener Hand nur von „Brüdern im Nebel“ sprach. Und die sich jetzt vor einem Landgericht mit dem Argument verteidigt, ausgerechnet in diesem Fall sei der „Bruder im tiefsten Nebel“ gerade leider nicht im Dienst gewesen …

Was die da gerade machen in meiner alten Heimat? In eben diesem Fall, an den ich mich noch so gut erinnere? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass gewisse Institutionen, von denen ich weiß, dass sie auch anders können, in solchen Fällen ihre Glaubwürdigkeit leider komplett verlieren. Und ja, wer bis hierhin gekommen ist, stellt fest: Ich meine gerade nicht nur die katholische Kirche …

Wie weit ist das wirklich weg?

Was das alles wiederum mit Ihnen hier zu tun hat? Wo es hier doch so schön ist? Und wo das Erzbistum Köln und das Landgericht Köln doch so weit, weit entfernt sind?

Wie gesagt: Ich beneide Sie darum. Ich hege aber ernsthafte Zweifel, dass das wirklich nur ein „Kölner“ Problem ist. Denn schön war es da auch. Vor allem damals, als ich als Kind so unbefangen auf Klassenfahrt ins Bergische gehen konnte.

Umso mehr meine dringende Bitte: Genießen Sie diesen Sommer! Denken Sie nicht so viel nach wie ich. Manchmal sollte man die Geister gar nicht rufen. Und es sich lieber zur Aufgabe machen, selbst bei der nächsten Generation für eine ebenso unbefangene Kindheit und Jugend zu sorgen wie die, die man selbst erleben durfte.

Einen wunderschönen Sommer wünscht Ihnen

Ihr Frank Klemmer