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Winter-Extreme im Oberharz Winter-Extreme im Oberharz: Kältepol am Wasserfall

Von Ralf Böhme 02.03.2018, 09:00
Bis zu sieben Meter hohe Eissäulen schmücken den  Wasserfall in Königshütte. Einheimischen dient er auch als Wetterzeichen.  MZ-Reporter  Ralf Böhme misst die Temperatur im Kälteloch des Oberharzes.
Bis zu sieben Meter hohe Eissäulen schmücken den  Wasserfall in Königshütte. Einheimischen dient er auch als Wetterzeichen.  MZ-Reporter  Ralf Böhme misst die Temperatur im Kälteloch des Oberharzes. Andreas Stedtler

Königshütte im Harz zeigt sich von seiner Bilderbuchseite: Blau ist der Himmel, strahlend weiß der Schnee, ein Sonnenaufgang wie im Film. Doch die Idylle täuscht. Zwischen sechs und sieben Uhr ist es so kalt wie in Sibirien, viel kälter als anderswo in Sachsen-Anhalt.

Teiche und Rinnsale sind von Eispanzern bedeckt, über die Traktoren rollen könnten. Der Schnee unter den Schuhsohlen knirscht nicht nur, er bricht regelrecht. Und Städter, die den echten Winter nicht kennen, frieren in ihren dünnen Klamotten schnell wie die Schneider.

Der Grund: Das Dorf im Schatten von Brocken und Wurmberg erweist sich jetzt als der Kältepol des ganzen Landes. Gefühlte Temperaturen von 25 Grad unter Null, die anderswo einen Alarm auslösen würden, sind hier nicht ungewöhnlich.

Der erste Eindruck: Vom Nachlassen des Frostes, wie ihn Meteorologen für Halle und Leipzig ankündigen, ist an diesem Donnerstagmorgen jedenfalls überhaupt nichts zu spüren. Und es will sicher etwas heißen, wenn wettergestählte Einheimische uns als Besucher kurz und knapp warnen: „Es ist kalt.“ Das meint auch Dieter Herdam, der aus Erfahrung zum Vergleich berufen ist. „84 Winter habe ich hier schon erlebt, hart waren sie alle.“ Es sei nicht vielen vergönnt, echte Königshütter zu sein. „Bei uns braucht man schon ein besonders dickes Fell.“ Mancher, der zuzieht, packt wegen Eis und Schnee bald wieder seine Sachen. Robust müsse man schon sein, bringt es Herdam auf den Punkt.

Warum das so ist, erklärt der ehemalige Schmied und ehrenamtliche Chef des Harz-Clubs in Königshütte auf einer Wanderung durch den Ort. Vorbei an kleinen Häusern, deren Fassaden mit Holzplanken verstärkt sind, führt uns der Weg auf eine verschneite Fläche. Hier ist es ganz still. Kein Vogelschrei. Nicht einmal die Baumwipfel am Waldrand rauschen. Wer seine Ohren spitzt, hört freilich ein schwaches Plätschern: Da ist die Kalte Bode, dort die Warme Bode. Herdam schwenkt seinen Gehstock in die jeweilige Richtung. „Hier ist der Zusammenfluss, eine wahre Hexenküche“, sagt der rüstige Rentner.

Nachgewiesen ist ihm zufolge, dass die Flüsschen niemals die gleiche Temperatur aufweisen. Obwohl ihre Quellgebiete nicht weit voneinander entfernt liegen, beträgt der Unterschied meistens zwei bis drei Grad Celsius. Herdam ist sich sicher, dass dieser Umstand ein spezielles Mikroklima hervorbringt. Eine der gravierendsten Folgen: Königshütte ist meist eine ganz besonders zugige Ecke des Harzer Oberlandes. Prognosen, die für das Land sicher zutreffen könnten, hätten in Königshütte deshalb kaum eine Bedeutung.

„Wir müssen unseren eigenen Wetterbericht machen.“ Aus der Zeit von 1946 bis 1969 sind sogar handschriftliche Aufzeichnungen überliefert. Schneehöhen von über einem Meter und Frostperioden, die über Wochen anhalten, soll es damals gegeben haben. Als Launen der Natur würde Herdam das nicht bezeichnen. Er findet, dass Petrus im Vergleich dazu heutzutage viel launischer regiert.

Dass längst eine automatische Messstelle, die Wetterdaten registriert und in das weltweite Computernetz einspeist, lässt die alten Königshütter kalt. Sie vertrauen auf ihre eigene Anzeige. Das ist der gleich am Ortseingang gelegene Königshütter Wasserfall. An ihm können Eingeweihte ablesen, wie das Wetter ist und wie es demnächst werden kann. Was da dran ist, wollen wir mit Dieter Herdam überprüfen.

Dass es mit dem 25 Meter hohen Wasserfall eine besondere Bewandtnis haben muss, zeigt schon seine geradezu magische Anziehungskraft. Herdam, der eine komplizierte Operation an der Wirbelsäule gerade erst gut überstanden hat, steigt zügig die Treppen hinauf. Den vereisten Pfad überwindet der Mittachtziger fast wie ein Junger. Und dann balanciert er auch noch zu der Stelle, die der herabstürzenden Flut am nächsten ist. Beinahe übermütig ruft er: „Gänzlich zu Eis erstarrt ist der Wasserfall noch nie, aber erleben würde ich es schon ganz gern einmal.“ Damit alles erstarrt, müsste die Kälteperiode freilich noch Wochen andauern. Daran glaube er nicht mehr so richtig. „Irgendwie macht der Klimawandel um Königshütte keinen Bogen“, sagt Herdam.

Zu den Fakten. Das Thermometer, bis gestern noch an Zimmerwärme gewöhnt, versieht glücklicherweise auch im Freien seinen Dienst. Es ist aber ein Härtetest. Die Farbskala sinkt von Minute zu Minute mehr ab. Mit bloßen Händen ist das Gerät nicht zu halten. Man würde wahrscheinlich an der Emaille festfrieren. Gefütterte Handschuhe sind auf einmal das Wichtigste. Erst bei minus 13 Grad ist an diesem Vormittag Schluss - in der Sonne!

Hobby-Wetterfrösche in Königshütte wissen sogleich: Väterchen Frost schwingt die Eispeitsche wahrscheinlich noch eine Woche lang. Nachtwerte von unter 20 Grad minus sind erwartbar. Und dass vielleicht Mitte März der Frühling schon Einkehr hält, ist mehr als ungewiss. So deuten die Königshütter nämlich die Eissäulen am Wasserfall. Einige sind ungebrochen sieben Meter hoch. Jeder Meter - eine Woche, heißt es in der Gegend. Das könnte nach Lesart der Oberharzer besagen: Bis weit in den April hinein muss nun mit winterlichen Wetter gerechnet werden.

African Mambo, African Mambo - der Klingelton verheißt Hitze, doch die Musik erstirbt in der Kälte. Das Mobiltelefon einmal aus der Jackentasche genommen, um den vielleicht wichtigsten Anruf des Tages entgegen zu nehmen - und dann passiert gar nichts mehr. Das Display bleibt schwarz wie die Nacht, nicht einmal ein Piepser ist zu hören. Abgestürzt, obwohl der Akku frisch aufgeladen ist. Ein freundlicher Wanderer, der das Ärgernis im Vorübergehen bemerkt, will sein Gerät leihen. Was Werner Marx aus Magdeburg dann bemerkt, erschüttert ihn: „Auch mein Gerät hat den Geist aufgegeben. Und ich will heute noch nach Sorge und Elend.“ Merke: Wer sein Handy nicht ganz warm einpackt, steckt in Königshütte wahrscheinlich nicht nur im Funk- sondern auch im Kälteloch. Und darauf reagiert empfindliche Technik heute immer noch hochgradig allergisch. Flippige Geschäftsidee: Beheizbare Hüllen könnten vielleicht der Ausweg sein.

Wenn es um Technik und Wetter geht, kann Dieter Herdam so einiges erzählen. Nach 32 Jahren Arbeit in der Werkstatt der großen Steinbrüche im benachbarten Rübeland, kennt er so manchen Kniff, wie man mit Wetterkapriolen fertig werden kann. Dass die Kleidung nach dem Zwiebel-Prinzip vielschichtig getragen werden sollte, weiß in Königshütte jedes Kind. Es beginnt aber schon beim Schuhwerk. Herdam schwört auf rutschfeste Ledersohle. Auch Wattejacke und Filzhut sind seiner Meinung nach unerreicht im Schutz vor der Kälte. Dass Winterreifen in dieser Gegend bereits ab 1. September so etwas wie Pflicht sind, muss eigentlich nicht extra betont werden. Denn wer aus dem engen Tal hinaus will, muss in jedem Fall erst einen Anstieg von neun Prozent überwinden - jetzt auch noch mit diversen Schneeverwehungen übersät.

Irgendwann wird jedoch der Frühling kommen, ist sich der Wanderführer trotz der eisigen Kulisse sicher. Befragt, was ihm zum Frühling denn zuerst in den Sinn kommt, kommt eine überraschende Antwort. Ihm fallen nicht die Namen von Frühblühern ein, sondern ein schlimmes Kriegserlebnis: „Da muss ich immer an 1945 denken, Mitte April schoss damals ein amerikanischer Tiefflieger mein Geburtshaus in Brand.“ Im Winter wäre das Löschwasser sicher eingefroren. So aber konnte man löschen. Aber es half alles nichts. Das Feuer vernichtete fast alles. In dem Neubau, errichtet mit Unterstützung der Nachbarn, lebt Herdam heute noch. „Das Haus ist winterfest, was will ich mehr.“

önigshütte, Donnerstag, 11.38 Uhr: Schon den ganzen Vormittag scheint die Sonne, dennoch steigt das Quecksilber nicht über 13 Grad unter Null an. Dick gefütterte Handschuhe sind bei der Messung wichtig. Ansonsten würden wahrscheinlich die Finger an der Emaille des Thermometers festfrieren. Damit  sind die Wetterverhältnisse wieder einmal ganz anders als im übrigen Land. Halle meldet zur gleichen Zeit nur minus ein Grad Celsius. 
önigshütte, Donnerstag, 11.38 Uhr: Schon den ganzen Vormittag scheint die Sonne, dennoch steigt das Quecksilber nicht über 13 Grad unter Null an. Dick gefütterte Handschuhe sind bei der Messung wichtig. Ansonsten würden wahrscheinlich die Finger an der Emaille des Thermometers festfrieren. Damit  sind die Wetterverhältnisse wieder einmal ganz anders als im übrigen Land. Halle meldet zur gleichen Zeit nur minus ein Grad Celsius. 
Andreas Stedler