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Mein Mauerfall Wanderung zum Jahrestag - Wie sich die Mauer in einen fliegenden Teppich verwandelte

Dietmar Schultke bewachte im Harz sein eigenes Gefängnis. Dann wollte er in den Westen fliehen - doch die Geschichte überholt ihn. Jetzt bietet der Ex-Grenzsoldat Führungen ins einst abgeschottete Grenzgebiet an.

Von Steffen Könau Aktualisiert: 09.11.2024, 11:42
Dietmar Schultke musste an der Grenze dienen - heute führt er Neugierige und Geschichtsinteressierte bei Grenzerwanderungen hinauf zum Brocken.
Dietmar Schultke musste an der Grenze dienen - heute führt er Neugierige und Geschichtsinteressierte bei Grenzerwanderungen hinauf zum Brocken. Foto: Steffen Könau

Schierke/MZ. - Er kennt jeden Meter, jeden Stein, jede Kurve auf dem Weg hinauf zum Brockengipfel. Nicht freiwillig allerdings. Zu DDR-Zeiten musste Schultke hier seinen Wehrdienst leisten, als Hundeführer in der 8. Grenzkompanie. Sommer wie Winter, Tag wie Nacht bewachen er und seine Leidensgenossen den Sicherungsstreifen vor dem Metallzaun. „Wir alle hatten Angst, dass etwas passiert, das einen vor schlimme Entscheidungen stellt.“

Zeiten, die lange vorbei sind. Die Dietmar Schultke aber nicht dem Vergessen überlassen will. Seit Jahren schon führt der gebürtige Spreewälder Interessierte bei seinen Grenzerwanderungen nicht nur hinauf auf den Brocken, sondern auch zurück in der Zeit. Der 57-Jährigen erzählt unterwegs von seiner Diensthündin Nena, die einfach nicht zu motivieren gewesen sei, auf der Jagd nach Flüchtlingen zuzubeißen.

Zerstörte Schicksale

Schultke beschreibt aber auch, wie sich das Leben an der Grenze für junge Leute anfühlte, die wie er langjährige Kontakte in sein Traumland USA hatten. Gebrochen worden seien viele, um sie fügsam zu machen, sagt Schultke. Und was ihn heute überhaupt dazu treibt, seine Wanderungen von Schierke auf den erst seit Ende 1989 wieder begehbaren Berg anzubieten: Der SED-Staat werde idealisiert, seine finsteren Seiten verblassen. „Hier wurden Schicksale zerstört und Menschen ermordet.“

Schon als Kind habe er von Amerika und der großen Freiheit geträumt, schildert er. „Seit meinem zehnten Lebensjahr pflegte ich mit einer deutschstämmigen New Yorkerin eine Brieffreundschaft, die so eng war, dass wir uns in Budapest trafen, als ich 19 war.“ Damals sprechen beide auch über Schultkes Fluchtpläne. „Doch sie warnte mich. Das Risiko sei viel zu hoch.“

Elend statt Paradies

Statt der Freiheit wartet der Wehrdienst auf den jungen Mann. „Vier Monate später zogen sie mich ein. Ich musste eine Ausbildung zum Hundeführer machen, dann wurde ich der 13. Grenzkompanie im Harz zugeteilt. Ich hatte vom Paradies geträumt und landete in Elend“, sagt er.

Die Hoffnung auf eine Fluchtmöglichkeit ist der einzige Grund, warum Dietmar Schultke einer Stationierung an der Grenze zugestimmt hat. Aber es bietet sich keine Chance. „Ich kam nur bis an den ersten Zaun und hatte immer einen Postenführer an der Backe“, erinnert er sich. „Über ein Jahr bewachte ich meine eigene Gefangenschaft.“ Auch wegen des Schießbefehls wagt er keinen Fluchtversuch.

Im Herbst 1988 endlich entlassen, beginnt der Hundeführer eine Ausbildung zum Krankenpfleger in Eisenhüttenstadt. „Aber die DDR zu verlassen, das war immer noch mein Ziel.“ Am 9. November 1989 soll es endlich soweit sein. „Ich fuhr nach Berlin und kaufte mir eine Fahrkarte nach Prag, die vier Wochen gültig war.“ Der Plan ist klar: „Ich wollte über die Botschaft in Prag flüchten.“

Schon beim Verlassen des Bahnhofs in Berlin staunt Dietmar Schultke über die Menschenschlange am Grenzübergang nach West-Berlin. „Doch ich musste den letzten Zug nach Eisenhüttenstadt bekommen.“ Er steigt und fährt nach Hause. Vom Mauerfall in der Hauptstadt der DDR bemerkt er nichts. „Als ich am nächsten Morgen im Krankenhaus erschien, stand die Stationsschwester mit Kolleginnen bei einer geöffneten Flasche Rotkäppchensekt: „Hast du gehört? In Berlin ist die Mauer gefallen!“ Ich konnte es kaum glauben.“

In der Woche darauf unternimmt der Ex-Grenzsoldat mit seinen Kollegen einen Betriebsausflug nach West-Berlin. Endlich frei! „Für mich bedeutete der Mauerfall ein zweites Leben.“ Dietmar Schultke holt im Westen sein Abitur nach, er studiert an der Uni und schreibt zwei Bücher über das, was er „diese furchtbare Grenze“ nennt.

„Für mich hat sich die Mauer in einen fliegenden Teppich verwandelt“, fasst er sein Leben in Freiheit heute zusammen. Schulte hat Vorträge in Südkorea und Israel, Japan und Australien, Taiwan und den USA gehalten und für die Uno gearbeitet. Die Zeit im Harz aber hat der Politikwissenschaftler, der im Spreewald lebt, trotzdem nicht vergessen. „Mehrmals im Jahr kehre ich nach Schierke zurück, führe Leute hinauf zum Brocken und erzähle ihnen, was vor 1989 in diesem wunderbaren Stück Harz an schrecklichen Dingen geschehen ist.“ Das ist ihm ein Bedürfnis, auch jetzt wieder: Am 9. November und am 3. Dezember finden die nächsten Grenzerwanderungen statt.

Grenzwanderung mit Dietmar Schultke am 3. Dezember, Treffpunkt 9 Uhr an der Tourist-Information Schierke, Anmeldung hier: https://www.fes.de/veranstaltungen/veranstaltungsdetail/280351/anmelden