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Vertreibung nach zweitem Weltkrieg Vertreibung nach zweitem Weltkrieg: Eine Million Flüchtlinge kamen nach Sachsen-Anhalt

Von Bärbel Böttcher 26.05.2015, 09:11
Deutschland, 1945: Vertriebene Sudetendeutsche treffen im bayerischen Durchgangslager Wiesau ein. Solche Lager gab es überall, um die Flut der Ankommenden zu kanalisieren.
Deutschland, 1945: Vertriebene Sudetendeutsche treffen im bayerischen Durchgangslager Wiesau ein. Solche Lager gab es überall, um die Flut der Ankommenden zu kanalisieren. dpa Lizenz

Halle (Saale) - Etwa zwölf Millionen Deutsche mussten zum Ende des Zweiten Weltkrieges die damaligen deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße verlassen. Sie flohen in Trecks, wurden deportiert oder ausgewiesen. Etwa eine Million von ihnen kam in das heutige Sachsen-Anhalt. In der Sowjetischen Besatzungszone hat nur noch Mecklenburg-Vorpommern eine ähnlich große Anzahl Vertriebener aufgenommen.

Professor Mathias Tullner von der Otto-von Guericke-Universität Magdeburg, der sich wie kaum ein anderer in der Landesgeschichte Sachsen-Anhalts auskennt, rechnet vor, dass 1938 bei der letzten Volkszählung vor dem Krieg auf dem Territorium des heutigen Sachsen-Anhalt etwa vier Millionen Menschen lebten. Bei der Volkszählung 1952 seien es immer noch vier Millionen gewesen. Aber jeder vierte Bewohner sei ein Vertriebener oder Flüchtling gewesen.

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Die Menschen, die nach dem Krieg aus Pommern, Schlesien, Ostpreußen, dem Sudetenland, aus Ungarn und aus anderen Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa kamen, brauchten ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und auch eine Arbeit. „Es ist eine außerordentlich große Leistung der damaligen Landesregierung unter Ministerpräsident Erhard Hübener gewesen, das bewältigt zu haben“, sagt Mathias Tullner.

Die Menschen wurden zunächst in sogenannten Auffanglagern betreut. Und hier beginnt die Erzählung des Landeshistorikers mit der des Betroffenen zu verschmelzen. Mathias Tullner, ein Ungarndeutscher, wurde 1944 in Wikatsch, heute Bikàcs, geboren. Das ist ein Ort südöstlich des Balatons. 1948, es war einer der letzten Vertriebenen-Transporte, kam der Vierjährige mit Mutter, Großeltern und Tanten aus Ungarn nach Sachsen-Anhalt. Der Vater war in einem russischen Gefangenenlager gestorben.

Eigenes Bett keine Selbstverständlichkeit

Die erste Station bildete das Auffanglager Dommitzsch an der Elbe. Aus Erzählungen weiß Mathias Tuller, dass die Menschen dort gut untergebracht waren. Jeder habe ein eigenes Bett gehabt - keine Selbstverständlichkeit in dieser Zeit. „Ich selbst erinnere mich an weiß gekleidete Menschen, also an medizinisches Personal“, erzählt er. Und es habe ausreichend zu essen gegeben. Etwa vier Wochen blieb die Familie dort. Dann wurden die Vertriebenen aufgeteilt. Die Tullners gelangten in das Dorf Holdenstedt bei Sangerhausen (heute Landkreis Mansfeld-Südharz). Dort wurde ihnen ein Zimmer auf einem Kleinbauernhof zugewiesen. Fünf Personen drängten sich darin.

Die Dorfbevölkerung, so sagt der Historiker, habe durchaus Verständnis für die Lage der Vertriebenen gehabt. „Sie haben uns mal ein Kissen, mal eine Hose, mal etwas zu essen gebracht.“ Oft seien die Menschen aber auch überfordert gewesen. „Das war eine Zeit, in der man Fremde überhaupt nicht kannte. Ungarn brachten viele vage mit Zigeunern in Verbindung“, erklärt Mathias Tullner. „Sie sprachen anders und sahen anders aus. Die Frauen trugen mehrere dunkle Röcke übereinander, hatten Kopftücher auf und benahmen sich auch anders.“

Für manchen Einheimischen war es sicher nicht leicht, sich daran zu gewöhnen. Doch die Zugezogenen, Umsiedler, wie sie in der DDR genannt wurden, hatten es ungleich schwerer. Sie mussten in der Fremde heimisch werden. Mathias Tullners Großmutter, evangelischer Konfession, half dabei die Nähe der Stadt Eisleben, der Geburtsort des Reformators Martin Luther. Legendär sei ihr Ausruf gewesen: „Jesses, das Eisleben gibt es ja wirklich.“ Und bald folgte ein Besuch in eben der Lutherstadt.

Wie sich der Vertriebene Tullner versuchte, in seiner neuen Heimat zu integrieren, lesen Sie auf Seite 2.

Die Einheimischen, so erzählt der heute 72-Jährige, seien natürlich von einer Grundüberlegenheit den Zugezogenen gegenüber ausgegangen. So manches, was die „eingedrungene Minderheit“ machte, sei kritisiert, vieles belächelt worden. Respekt habe sich diese aber durch fleißige Arbeit in der Landwirtschaft erworben.

Der Heranwachsende bemühte sich auf seine Weise um Integration. Zum Beispiel als Kapitän der Fußballmannschaft. „Ein Tor für den Holdenstedter Fußballverein zu schießen war prestigeträchtig“, sagt Mathias Tullner. Zudem feilte er an seiner Sprache. „Zu Hause wurde in einem versteinerten bayerischen Dialekt geredet“, erzählt er. Um nicht aufzufallen, habe er versucht, holdenstedterischer als die Holdenstedter zu sprechen und darüber leider das Ungarische vergessen.

Von den Vertriebenen, so sagt der Historiker, sei aber vor allem das Thema Bildung großgeschrieben worden. Bildung sei als eine Möglichkeit angesehen worden, einen gesellschaftlichen Wiederaufstieg zu erreichen und mit großer Konsequenz betrieben worden. Er selbst studierte später Geschichte in Magdeburg, arbeitete als Lehrer, Hochschullehrer. Wurde dann Professor.

Hoffnung auf Rückkehr zerschlagen

Anfang der 50er Jahre hofften die Ungarndeutschen allerdings noch auf eine Rückkehr in die Heimat. Die zerschlug sich erst nach dem gescheiterten Volksaufstand 1956, als die Ungarn versuchten, sich von der kommunistischen Herrschaft zu befreien. Von diesem Zeitpunkt an wurden neue Möbel angeschafft. Fortan kleideten sich die Frauen so wie ihre Nachbarinnen. „Solche Zäsuren hat es bei unterschiedlichen Volksgruppen zu unterschiedlichen Zeitpunkten gegeben“, betont der Historiker.

Für die DDR-Führung hatte sich die Integration der Vertriebenen per Beschluss erledigt. Es wurde streng darauf geachtet, dass es keine Zusammenschlüsse von Landsmannschaften wie im Westen gab. Das galt als revanchistisch. Und es wurde dafür gesorgt, dass sich Vertriebene einer bestimmten Herkunft nicht in einem Gebiet konzentrierten. Mit einer kleinen Ausnahme: die Gablonzer Glasbläser, die aus dem Böhmischen geflüchtet waren. Sie haben die Möglichkeit erhalten, sich gemeinsam in Derenburg im Harz anzusiedeln und ihr Handwerk weiter auszuüben. Ihre sudetendeutsche Identität durften sie aber nicht nach außen tragen. Übrigens - die Derenburger Glasmanufaktur existiert bis heute.

„Ernstzunehmende Konflikte“, so resümiert der Historiker, „hat es mit den Vertriebenen in Mitteldeutschland nicht gegeben.“ Mathias Tullner denkt dabei nicht an Wirtshausprügeleien, sondern an Bandenbildungen und gewaltsame Übergriffe. „Die Aufnahme der Vertriebenen ist vielmehr eine Erfolgsgeschichte“, sagt er. Und hat dabei auch einen wenig beachteten Aspekt im Blick: „Die Vertriebenen haben nach dem Krieg eine gewaltige Aufbauarbeit geleistet. Von der DDR ist das wegen ihrer merkwürdigen Haltung ihnen gegenüber nie richtig gewürdigt worden.“ (mz)