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Unwetter in Lieskau bei Halle Unwetter in Lieskau bei Halle: Was ist nur passiert?

Von Lutz Würbach 09.07.2015, 04:06

Lieskau - Die Knie zittern erst, wenn alles vorbei ist. Das habe ich mal irgendwo gelesen, als jemand beschrieb, wie er eine dramatische Situation erlebt hat.

Mehrere Wolkenschichten übereinander

Dienstag, 20 Uhr im Saalekreisort Lieskau. Ein Gewitter zieht auf. Mehrere Wolkenschichten übereinander, der Himmel ist gelb. Das sieht schön, aber nicht gut aus. Wir haben die Fenster geschlossen, die Blumentöpfe eng an die Hauswand gestellt. Die neue Rose, sie steht noch im Topf, bekommt ein geschütztes Plätzchen am Gartenhaus. Soll es nur kommen, das Gewitter, wir sind gewappnet.

Nein, das sind wir nicht - und das hätten wir auch nicht sein können. Und die Nachbarn auch nicht, die sich in ihre Häuser zurückgezogen haben. Zwei, drei Minuten, nachdem ich die Rosen in Sicherheit gebracht habe, trifft die erste Sturmböe das Haus. Meine Güte, denke ich, das ist aber heftig. Na, dann ist es eben so. Ich mag Wind. Das muss man wohl auch, wenn man ein paar Jahre zur See gefahren ist.

Die zweite Böe ist noch heftiger. Meine Frau und ich schauen reihum aus den Fenstern und beobachten insbesondere die Bäume, die der Sturm peitscht. Die Lärche verliert die ersten Äste. Sie werden einfach vom Stamm gerissen und weggeweht. Mir wird mulmig.

Im nächsten Moment kommt die nächste Böe. Sie ist noch stärker und plötzlich gibt es einen gewaltigen Schlag. Mein erster Gedanke: Das Haus fliegt weg. Oder zumindest der Vorbau. Dann ruft meine Frau: „Der Baum ist weg!“ Ich: „Welcher Baum?“ (Im Garten stehen neben der Lärche auch noch mehrere Fichten.) Während ich aus dem Fenster vergeblich Ausschau nach der größten Fichte halte, fliegen Dämmwolle und Platten aus Schaumpolystyrol durch den Garten. Der Baum! Der Schlag! Die Fichte hat das Dach zerstört!

Das Dach! Aber wo?

Schockstarre - das beschreibt den nächsten Moment wohl am besten. Das Dach! Aber wo? Es liegt auf der Straße. Meine Frau hat es entdeckt, und ich renne im Haus hoch und runter und suche, wo das 15 bis 20 Quadratmeter große Stück fehlt. Die Schockstarre hat soeben die Logik besiegt. Das Stück vom Dach liegt dort, von wo der Wind kommt. Das kann also gar nicht unseres sein. Heute ist mir das klar, am Dienstagabend zunächst nicht. Um es kurz zu machen: Bäume sind auf unserem Grundstück gefallen, haben aber keinen nennenswerten Schaden angerichtet. Das Stück Dach auf der Straße gehört dem Nachbarn auf der anderen Straßenseite.

Weitere Informationen zum Unwetter über Lieskau lesen Sie auf Seite 2.

Nach dem letzten schweren Schlag ist der Sturm schnell weitergezogen. Die Leute kommen aus ihren Häusern und schauen, wo der Schaden am größten ist. Autofahrer halten vor dem Dach auf der Straße an: ein Mann und eine Frau. Sie hätten wenden können. Sie hätten auch irgendwie das Hindernis umfahren können. Nein, sie steigen aus und mühen sich mit meinem Nachbarn vergeblich, das Stück Dach von der Straße zu bekommen. Ich packe mit an, es reicht nicht. Immer mehr Nachbarn kommen hinzu. Hier ist die Stelle in unserer Straße, wo der Orkan den größten Schaden angerichtet hat. Hier muss geholfen werden. Sch... auf die geknickte Tanne im eigenen Garten - so denken alle, die am Dach anpacken. Mit vereinten Kräften wird die Straße beräumt. Nun rücken alle ab, um gleich danach mit Besen zurückzukehren. Straße fegen, damit niemand mit dem Auto in die Nägel fährt. Die Ansage eines anderen Nachbarn klingt logisch. Es ist gut, wenn Leute in solchen Situationen die Übersicht behalten.

Jetzt erst bemerke ich das ganze Ausmaß des Schadens in meiner Straße. Ein Mann, dessen Dach ebenfalls teilweise zerstört worden ist, versucht vergeblich Familienangehörige per Telefon zu erreichen. Unterdessen kommen immer mehr Leute zusammen. Jemand will mit der Kettensäge den Baum zerlegen, den der Sturm auf meine Garage geknickt hat. Doch der Strom ist weg. Kein Strom, keine Kettensäge. Hat jemand ein Gerät mit Benzinmotor? Jemand aus der Nachbarschaft hat.

Was war das jetzt gerade?

Ich weiß nicht, wie spät es inzwischen ist. Ich versuche einen klaren Gedanken zu fassen. Was war das jetzt gerade? Wie geht es unseren Kindern, Eltern und Schwiegereltern in und um Halle? Informationen! Ich will Informationen. Die Realität ist schockierend: kein Strom, kein Telefon, kein Handynetz, kein Internet. Auf den Straßen aus unserem Ort liegen Bäume. Kein Durchkommen.

Ich weiß nicht, ob ich mich schon einmal so hilflos gefühlt habe. Nein, hilflos ist das falsche Wort. Hilfe findet um mich herum statt. Meine Frau und ich bekommen von Leuten Unterstützung, die wir nicht mal vom Sehen kennen. Und wir helfen Leuten, die es schlimmer getroffen hat als uns. Wir sind nicht hilflos, wir sind ohnmächtig. Dabei scheint man gegen alles gewappnet zu sein, mit Handys, Laptops oder elektrisch betriebenen Kettensägen. Doch jetzt, wo sie wirklich gebraucht werden, funktioniert keines der Geräte.

Der Tag danach: Gestern hatte ich weiche Knie - nachdem alles vorbei war. Ich weiß nicht, warum das so ist. Experten können das bestimmt begründen. Aber eigentlich ist mir das im Moment egal. Das gilt auch für die Antwort auf die Frage, warum die Rose noch immer im Topf steht, während die große Fichte fünf Meter entfernt auf unserer Garage liegt. Was war das eigentlich gestern? Das ist es, was ich wissen will. (mz)