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Unfälle junger Fahrer Unfälle junger Fahrer: Gesichter hinter den Kreuzen

Von Katrin Löwe 21.11.2005, 18:50

Leuna/MZ. - Das Plakat hängt unübersehbar über dem Sofa: "3, 2, 1 ... Deins?!". Die Anlehnung an den Slogan des Internet-Versteigerungshauses Ebay ist so klar wie die Provokation dahinter. Den Bildmittelpunkt bilden nicht glückliche Auktionsgewinner, sondern Kreuze am Straßenrand.

"Es soll schockieren", sagt Roxana Wuerden, die das Plakat Anfang des Jahres mit Sebastian Monk innerhalb eines Projektes an der Berufsschule entwickelt hat. Heute, Monate später, ist klar: Die Arbeit hat das Leben der jungen Leute verändert. Die 18- und der 25-Jährige widmen mittlerweile einen Großteil ihrer Freizeit einem Ziel - junge Kraftfahrer aufzurütteln, um die Zahl der schweren Verkehrsunfälle zu senken. 52 Menschen ihres Alters starben bis zum 20. November auf Sachsen-Anhalts Straßen. Bis Ende Oktober waren es drei getötete 18- bis 25-Jährige mehr als 2004.

Roxana Wuerden und Sebastian Monk waren selbst einst alles andere als das, was man sich unter "Vorzeige-Jugendlichen" vorstellt. Drogen, Alkohol, Depressionen - "mir fehlte eine Perspektive", sagt die junge Frau. Wäre sie vor einem Jahr gewarnt worden vor dem, was passiert, wenn man mit Tempo 140 gegen einen Baum rast, hätte es von ihr nur einen lapidaren Kommentar gegeben: "Was kann einem besseres passieren als ein schneller Tod?" Mittlerweile hat sie eine völlig neue Einstellung zum Leben, hat ihre Probleme überwunden.

Das erste Nachdenken, sagt sie, kam während der Arbeit an dem Plakat, für das Straßenkreuze fotografiert werden sollten. Als sie überrascht erkannte, dass stimmte, was ihr Unfallpräventions-Spezialist Bernd Müller von der Polizeidirektion Merseburg sagte: Sie müsse nur links und rechts schauen, wenn sie Kreuze suche. Und irgendwann, erinnert sie sich, war es auch nicht mehr das einfache Auslösen am Fotoapparat. Sie begann zu grübeln über Schicksale, die hinter den Kreuzen stehen, über Träume und Pläne derer, die dort aus dem Leben gerissen wurden.

Bei der Projektarbeit blieb es nicht. Im März beschlossen beide Berufsschüler, die Dokumentation über die Entstehung des Plakates ins Internet zu stellen. Gemeinsam mit Bernd Müller stellten sie unzählige Fakten zusammen. Und irgendwann fingen sie an, mit Eltern Verunglückter in Kontakt zu treten. "Ich war durch Zufall auf eine Gedenkseite gestoßen", sagt die 18-Jährige, die von vielen Angehörigen Zuspruch erfährt. Die mit Müttern telefoniert, persönlichen Kontakt sucht. Und den vielen Kreuzen an Straßenrändern Gesichter gibt. Wenn Wuerden von der 16-jährigen Sabrina erzählt, die 2003 im Main-Taunus-Kreis tödlich verunglückte, dann meint man, die Mädchen hätten sich gekannt. "Sie war doch nur einen Monat älter als ich."

Mit Emotionen und Schicksalen aufrütteln - das ist das Ziel der Leunaer, deren Internetseite 70 Besucher täglich zählt. Darüber hinaus haben sie mit eigenen Arbeiten die Ausstellung "Straßenkreuze - Unorte des Sterbens" ergänzt. Sie nehmen an Diskussionen teil, stellen sich abends vor die Disko, um mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen - als zwei von ihnen.

Pläne haben Roxana Wuerden und Sebastian Monk, die zwei weitere Mitglieder ihrer Wohngemeinschaft mit ins Boot geholt haben, noch einige. Gemeinsam mit Hinterbliebenen und Unfallfahrern etwas tun will die 18-Jährige. In Arbeit sind Aufkleber und Flyer - ein Flyer ist in einer Auflage von 10 000 Stück schon gedruckt und verteilt worden. Finanziert wurde er von den Jugendlichen selbst. Sponsoren fanden sich nicht. Weil nicht abrechenbar sei, wie viele Unfälle solche Projekte vielleicht verhindern, "gibt es keine Lobby", bedauert Polizist Müller. Aufgeben kommt dennoch nicht in Frage. Denn, so Wuerden: "Niemand soll nur Teil einer Statistik, nur ein Strich auf einer Liste sein."