Thüringen Thüringen: Spiel ohne Grenzen auf der Wasserburg von Heldrungen
HELDRUNGEN/MZ. - Für einen Moment steht alles still. Die meisten Männer – Ritter, Beamte und Edelleute – haben sich in sichere Nischen geflüchtet. Die meisten Damen sind immer noch verschwunden. Dunkle Wolken hängen am Himmel, ein Sturm kündigt sich an. Dann plötzlich gellendes Geschrei. Elfen, Bauersfrauen, Hexen und bunter Geschöpfe der Nacht brechen aus den Tiefen der Burg. Jagdzeit in Tulderon, der Stadt, die auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Ritter flüchten. Furchteinflößende Dämonen stolpern und stürzen. Die wackeren Kerle von der Stadtwache schauen hilflos zu.
Es ist Ladies Night an diesem Nachmittag in Tulderon, dem temporären Gemeinwesen, das seit neun Jahren jeden Sommer Quartier auf der Wasserburg im nordthüringischen Heldrungen bezieht. Für 96 Stunden wird die fast 500 Jahre alte Fest am Südrand der Goldenen Aue südöstlich von Bad Frankenhausen zu einem Ort außerhalb der Zeit. Ladies Night bedeutet, dass die Frauen der Stadt die Männer jagen. Wer nicht rechtzeitig fliehen kann, läuft Gefahr, erwischt und um eine Trophäe erleichtert zu werden.
Tara Tobias Moritzen schaut sich das Spektakel von einem sicheren Platz oben auf einem Baugerüst an, das von der laufenden Sanierung der Burg des Grafen Ernst II. von Mansfeld kündet. Moritzen ist der Mann hinter den Kulissen, der Chef der „Orga“ genannten Väter der Stadt. Ende der 90er Jahre war der Mann aus Schleswig-Holstein selbst noch Spieler in Tulderon. Als die damaligen Organisatoren dann das Handtuch warfen, tat es ihm leid um die tolle Spielidee. „Wir haben dann gesagt, okay, dann machen wir das eben weiter“, sagt der 41-Jährige, der hauptberuflich beim Braunschweiger Fantasy-Verlag Zauberfeder-arbeitet. „Tulderon“, sagt Tara Moritzen, „ist ja eine einzigartige Stadtsimulation, die erst durch ihre Bewohner zum Leben erweckt wird.“
Es sind Ingenieure, Handwerker, Angestellte und Studenten, die hier über ein langes Wochenende aus der Rolle fallen und sich selbst neu erfinden. Der Schüler wird zum Ritter, der Zahnarzt zum Zauberer, die Verkäuferin steckt sich Elfenohren an und wer draußen vorm Tor, das für Besucher geschlossen bleibt, eben noch als ganz normaler Durchschnittsdeutscher mit Handy, Laptop und Armbanduhr ankam, fällt mit dem so genannten Charaktercheck und dem Umstieg in seine Gewandung genannte Tulderon-Kleidung aus Zeit und Raum. Jetzt schreiben wir das Jahr 5028, die Männer in den weißen Rittergewändern, die grünen Waldelfen und der korpulente Mann mit dem Arzttäschchen leben in einer feudalen Stadt jenseits der Gegenwart, in der das Geld „Kupfer“ und „Silber“ heißt, das Lokalblatt „Stimme des Herolds“ und die Regierung von der aklonischen Krone ein gesetzt wird, seit das Gemeinwesen vor zwei Jahren den Status einer Freistadt verloren hat.
„Es lief wohl nicht alles so, wie es sollte“, begründet Tara Moritzen die Teilsuspendierung demokratischer Errungenschaften. Tulderon sei eine Wirtschaftssimulation, die Ökonomie der Stadt funktioniere nur, wenn sich Geben und Nehmen die Waage halten. „Das war vielleicht nicht immer der Fall.“ Genau weiß das Moritzen auch nicht, obwohl er seit 2003 Organisator des Fantasy-Events in Nordthüringen ist. „Weil wir nur die Grundzüge entwerfen, alles andere aber bei den Spielern liegt.“
Von wegen, es gibt kein richtiges Leben im falschen. Bei den Zusammenkünften der Anhänger des „Live Action Role Play“ spielt nur das Spiel eine Rolle – und alle Spieler sind die Figuren, die sie selbst sein wollen. Mehrere hundert Zusammenkünfte von Larp-Fans gibt es jedes Jahr in Deutschland, zu manchen pilgern Tausende, zu anderen nur ein paar Dutzend, viele sind auf mittelalterliche Spielwelten, auf Science-Fiction-Szenerien oder auf das Universum des „Herrn der Ringe“ festgelegt. Immer aber geht es um Urlaub vom Alltag, um das Ausbrechen aus dem Gefängnis der wirklichen Wirklichkeit und das Abtauchen in eine Fantasiewelt voller Magie, voll heldenhafter Kämpfe und zauberhafter Ereignisse.
Es sind Spiele ohne Grenzen, die auch in Tulderon mit Waffen ausgetragen werden, die niemanden verletzen können. Alle Armbrustpfeile sind dick gepolstert, alle Schwerter aus biegsamem Plastik oder Holz. Die Spannung, die alle Spieler fühlen, kommt aus der Ernsthaftigkeit, mit der die Beteiligten Räuber und Gendarm spielen: „In Time“, der Codebegriff der Larp-Anhänger für die Zeit in der gewählten Rolle, ist jeder wirklich der Chevalier, Ultorianer-Ritter oder Krieger der Stadtwache, der er zu sein vorgibt. „Jeder gestaltet sich sein Kostüm und entwirft seinen Charakter“, erklärt Moritzen. Selbst die Kinder älterer Larp-Spieler begreifen schnell, wie das geht: Begeistert und mit großer Ernsthaftigkeit spielen sie bei der Stadtwache mit oder verdingen sich als Boten und Bettler.
Die Wahl ist frei, die „Orga“ um Tara Moritzen, die von der Zentrale im Hauptgebäude der Burg mit Laptop und Funkgerät alle Fäden zusammenhält, entwirft nur den großen Rahmen für die Fantasiewelt zwischen den Burgwällen, weißen Ritterzelten und schwarz-gelben Schildzeichen. Für ein paar Tage kann hier jeder sein, was er in seinen Träumen gern wäre. Wer sonst am Schreibtisch sitzt, betreibt vielleicht ein Teehaus. Wer vielleicht normalerweise unauffällig durchs Leben geht, darf als Dämon mit blitzblauem Gesicht Schrecken verbreiten und arglosen Besuchern ihre Seelen abkaufen. Und wer eigentlich nur 1,70 groß ist, kann sich mit Lederwams und Holzschwert beim Juggerkampf mit gepolsterten Lanzen inszenieren, als sei er ein zwei Meter großer Recke.
Iwan muss das nicht spielen. Der imposante Mann im schwarzen Kittel bewacht „Kastors Katakomben“, eine Art Geisterbahn für Abenteuerlustige, die jedes Jahr in einer ganzen Etage eines Nebengebäudes der einstigen Burg der edlen Herren von Heldrungen aufgebaut wird. Besucher müssen sich durch ein Labyrinth aus künstlichen Spinnweben, Stroboskop-Licht und rotierenden Plastikschwertern kämpfen, dessen Schrecken mindestens ebenso sehr in der Einbildung wie in der Wirklichkeit existieren. „Wir haben schon Jahre gehabt, in denen weniger Leute rausgekommen sind als sich vorher reingewagt haben“, sagt der Wächter des Verlieses. Sogar ein paar hartgesottene Kerle von der Meuchelmördergilde hätten sich hier schon verlaufen. „Jaja, die haben wir nie wiedergesehen“, sagt Iwan zufrieden und schmunzelt dabei. Hier in der Parallelwelt ist das Böse nur ein Abenteuer. Der Tod ist ein Witz. Und das ganze Leben ein großes Spiel.