Thüringen Thüringen: Das lange Warten der Frau Hong
Jena/MZ. - Der Tag, an dem Renate Hong ihren Mann zum letzten Mal sehen soll, verläuft ganz unspektakulär. Jena, Saalbahnhof, 14. April 1961. Sie, damals 23, steht auf dem Bahnsteig. Er, drei Jahre älter, steigt in den Zug nach Berlin. Von dort geht es weiter via Sowjetunion nach Pjöngjang, Nordkorea. Ihr ist schwer ums Herz. Sie trägt das erste Kind auf dem Arm, das zweite im Bauch. Sie ist gesundheitlich angeschlagen. Aber es wird alles gut werden. "Ich wollte das Kind noch in Deutschland bekommen", sagt Renate Hong, "dann wollte ich ihm nachreisen."
46 Jahre später sitzt sie in ihrer Wohnung in Jena-Lobeda. Aus dem Wohnzimmerfenster in der neunten Etage fällt der Blick auf die Autobahn. Renate Hong ist eine zierliche Frau von 70 Jahren, die seit Jahrzehnten auf ihren Mann wartet. Bisher vergeblich.
Zum Tanz aufgefordert
Die beiden lernen sich 1955 in Jena kennen. Sie studieren Chemie. Hong Ok-gun ist einer von hunderten nordkoreanischen Studenten, die das Land in die DDR schickt, weil es Fachleute braucht. Beim Immatrikulationsball im Oktober 1955 fordert er Renate zum Tanz auf. Bald sind beide ein Paar.
Ihre Zukunft scheint klar: Ok-gun darf nach dem Studium noch bleiben. In einem Chemiefaserwerk absolviert er ein Praktikum. Im Februar 1960 heiraten die beiden, obwohl Nordkorea solche Ehen nicht anerkennt. Im Juni kommt der erste Sohn zur Welt - Hjon-zol. "Das steht für Klugheit", sagt Renate Hong und lächelt versonnen. Heute heißt Hjon-Zol Peter, aber damals stand fest, dass es ein koreanischer Name sein muss: "Schließlich wollten wir nach Nordkorea gehen."
Ein Tag im April 1961 macht alle Hoffnungen mit einem Schlag zunichte: Nordkorea ruft alle Studenten zurück. Die Gründe liegen bis heute im Dunkeln (siehe "Studium in DDR"). Für das Paar ist die Order ein Schock: "Besonders schlimm war es, weil ich wieder schwanger war", erinnert sich Renate Hong. Dass aus den Plänen, mit den Söhnen später nachzukommen, nichts werden wird, ahnt sie noch nicht. Erst 1963 gibt sie auf, gezwungenermaßen. Die DDR lässt sie nicht ausreisen nach Nordkorea, weil die Versorgung dort nicht gesichert sei. Hinter der jungen Mutter mit ihren zwei kleinen Kindern liegen da schon zwei Jahre Briefwechsel voller Hoffnungen.
46 Jahre später zieht Renate Hong einen Umschlag aus braunem Packpapier aus einer Schublade, ein Einmachgummi hält ihn zusammen. Sie hat alle Briefe Ok-guns aufgehoben. Der letzte kam im Februar 1963 an und "klang wie ein Abschied". Er könne nicht viel schreiben, heißt es, alle mögen gesund bleiben. "Da dachte ich mir schon, dass er überwacht wird." Fortan resigniert Renate Hong. Sie braucht ihre Kraft für ihre Kinder und ihre Arbeit als Chemikerin. War das richtig so? Diese eine Frage hat sie all die Jahre mit sich herumgetragen. Mittlerweile weiß sie: Es war richtig. Die 70-Jährige hat Kontakt zu Frauen, denen es ähnlich erging. "Einige sind ihrem Mann nach Nordkorea gefolgt und kamen zurück, weil man dort nicht leben konnte", erzählt sie.
Ein Leben in Bildern
Geheiratet hat Renate Hong nicht wieder. "Ich wollte für meine Söhne da sein", sagt sie leise. Die Hoffnung, dass Peter und sein jüngerer Bruder Uwe den Vater doch noch einmal sehen können, hat die Mutter nie aufgegeben. Sie legt vergilbte Fotoalben auf dem Couchtisch. Sie zeigen, chronologisch geordnet, wie die Kinder aufgewachsen sind. Sie hat sie aufgehoben. Für ihren Mann - auch wenn die Ehe offiziell seit einigen Jahren annulliert ist.
Seit Januar dieses Jahres ist die Hoffnung wieder ein Stück gewachsen. Das Auswärtige Amt und der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes haben ihr mitgeteilt, dass Ok-gun noch lebt. Ein südkoreanischer Journalist, der über den Fall berichtete, hatte die Kontakte vermittelt. Aufmerksamer denn je verfolgt Renate Hong jede Fernsehsendung, jeden Zeitungsbericht über Nordkorea, das wieder spricht mit dem Rest der Welt. Rätselhaft bleibt ihr dieses Land trotzdem, der Steinzeitkommunismus, der Personenkult um den "geliebten Führer", den Diktator Kim Jong Il. "Ich verstehe diese Ideologie nicht."
Renate Hong wägt jetzt jedes Wort. Sie weiß, dass ihr Fall auch in der nordkoreanischen Botschaft bekannt ist. Sie will das zarte Pflänzchen Hoffnung nicht zerstören, "gerade jetzt, wo es so günstig steht". Mit Hilfe des deutschen Außenministeriums und des Roten Kreuzes wird sie Ok-gun vielleicht bald einen Brief schreiben können, der ihn auch erreicht. Wenigstens das. Es wäre, wieder im April, so etwas wie ein neuer Anfang.