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Terrorzelle in Zwickau Terrorzelle in Zwickau: Nichts gesehen, nichts gemerkt

Von Bernhard Honnigfort 16.11.2011, 19:27

Zwickau/MZ. - Jeder will das Loch sehen, es ist ja auch nicht zu übersehen: Das gelbe Haus in der Frühlingsstraße 26 im Zwickauer Stadtteil Weißenborn, der Polizeibulli vor der Tür, das rotweiße Flatterband, die Gitter um das weitläufige Grundstück, der Schrotthaufen auf dem Rasen. Und im Dach an der rechten Seite das gigantische Loch, das einmal eine Wohnung war. Vor 13 Tagen soll Beate Zschäpe sie in die Luft gesprengt haben.

"In was für einer Welt sind wir angekommen", fragte eine Frau. Sie ist mit ihrer Mutter vorbeigekommen, das Loch ansehen. Ihre Oma wohnt um die Ecke. "Das ist doch ein guter Stadtteil", sagt die Frau. Villenartige Häuser, renoviert, in hellen Farben. Kleine Gärten, akkurat gepflegt. Die Hecken geschnitten, die Rosen für den Frost angehäufelt. Nichts ist heruntergekommen. Man pflegt, was man hat. Man kümmert sich. Die Frau denkt laut vor sich hin: "Was die Beate Zschäpe wohl für eine Strafe bekommt? Die sind doch heute so schnell wieder raus."

Das Trümmergrundstück ist Ausflugsort geworden. Eine ältere Frau auf Krücken bleibt stehen und schaut auf den weggesprengten Giebel. "Ja", sagt sie. Sie habe die Leute manchmal gesehen, die dort wohnten. Den jungen Mann, die Frau, den anderen. "Aber sonst auch nichts." Da habe es nichts zu sehen gegeben. Unfassbar sei das Ganze. Die Buslinie 22 führt durch die Frühlingsstraße. "Was da noch alles hätte passieren können", sagt sie. "Was für eine Mordgeschichte. Und wer weiß, was noch dabei herauskommt."

Natürlich hat niemand etwas geahnt. Wie denn auch. Aber das Unbehagen ist mit Händen zu greifen: Eine Mörderbande in der Nachbarschaft, jahrelang. So etwas hätte überall sein können, aber es passierte nun einmal in Zwickau-Weißenborn. Die Polizei hat die Untersuchungen vor Ort eingestellt. Schutt und Asche sind durchsiebt, die Reste der Wohnung ausgeräumt. Man fand Waffen, Handschellen, Pfefferspray, die zynische Bekenner-DVD. Gelbe Metallstützten tragen die verkohlten Deckenbalken notdürftig. Auf dem Rasen liegen die Reste der Inneneinrichtung, die Badewanne, Heizkörper.

Alles, was nicht verbrannt ist, nachdem Beate Zschäpe am 4. November kurz nach 15 Uhr die Wohnung verließ, einer Nachbarin zwei Kätzchen übergab. Sie müsse mal weg, komme aber gleich wieder, soll sie gesagt haben. Dann ging alles in Flammen auf, die Scheiben platzten, Teile der Mauer verschoben sich, es regnete Steinbrocken und Dachziegelstücke.

Seit drei Jahren soll die 36-Jährige hier gewohnt haben. Man hat sie gesehen, aber nicht gekannt. Man hatte ein verschwommenes Bild von ihr, mehr nicht. Die Hausverwaltung hat regelmäßig die 500 Euro Kaltmiete bekommen für die 120 Quadratmeter große Wohnung. Die Leute im Viertel hielten Beate Zschäpe und Uwe Mundlos, 38,für ein Paar. Und Uwe Böhnhardt, 34,für ihren Bruder. Zschäpe hat manchmal mit Leuten geredet, aber ohne etwas zu erzählen. Hier ein kleiner Plausch, da ein Schwätzchen.Die einen dachten, sie habe irgendetwas von Zuhause aus gearbeitet. Andere hielten alle drei für "Hartzer".

Doch nicht nur im Haus klafft nun ein großes Loch. Auch in den Biographien von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt. Ein rätselhaftes Loch von 13 Jahren, das Ermittler der Bundesanwaltschaft jetzt füllen müssen. 13 leere Jahre, die zusammengepuzzelt werden müssen.

Es beginnt oder es endet am 26. Januar 1998 mit einer Hausdurchsuchung in Jena. Das Trio war den Sicherheitsbehörden nicht unbekannt: Sie mischten mit bei der "Kameradschaft Jena", einer brutalen Neonazigruppe, die Jagd auf Linke und Ausländer machte. Sie waren Teil der Thüringer Kameradschaftsszene, zu besten Zeiten 150 bis 170 Neonazis, eng vernetzt, fast "familiär", beschreibt es ein Kenner der Rechtenszene.Die Polizei hatte Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe im Visier. Sie fand das übliche Neonazi-Zeug: eine Reichskriegsflagge, Propagandamaterial.Aber in einer Garage stießen sie auf Sachen, die dem Ganzen eine neue Dimension gaben: vier Rohrbomben, 1,4 Kilogramm Sprengstoff. Zwei Tage später erging Haftbefehl an alle drei. Aber da waren sie abgetaucht. Eine Panne. Heute schimpft Thüringens Innenminister Jörg Geibert (CDU), nennt es "unerklärlich". Damals wurde aus den verschwundenen Jenaer Kameraden die Mörderbande, deren Taten jetzt ans Licht kommen. Kurz vorher waren sie noch einmal gesehen und fotografiert worden. Sie zogen mit Hunderten anderer Neonazis durch Dresden, demonstrierten gegen die Wehrmachtsausstellung. Es gibt Bilder davon, Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt neben einem roten Transparent: "Nationalismus - eine Idee sucht Handelnde."

Fortan handeln sie. Am9. September 2001 beginnt die Mordserie. Blumenhändler Enver S. muss als erster sterben - getroffen von Kugeln aus verschiedenen Waffen. Eine davon ist die Pistole Ceska, Typ 83, Kaliber 7,65, Nummer034673 mit Schalldämpfer. Die Waffe in der Asche im Zwickauer Haus. Mindestens neun weitere Opfer folgen. Ermittler sehen die Taten, aber nicht die Hintergründe, nicht die Täter, nicht die Motive. Morde ohne Erklärung.Erst jetzt ist das Loch, der Abgrund, das Ausmaß erkennbar. Hätte man etwas verhindern können?

Heiko Gentzel ist SPD-Landtagsabgeordneter in Thüringen. Der 51-jährige ist Innenpolitiker, Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK), die das Landesamt für Verfassungsschutz kontrolliert. Vor der Wende kümmerte er sich um Gabelstapler, danach um Geheimdienste. Und jetzt, nach der Mord-Serie, nachdem sich Mundlos und Böhnhardt in Eisenach in einem Wohnmobil erschossen, nachdem in Zwickau die Wohnung explodierte und sich Beate Zschäpe der Polizei gestellt hat, jetzt, nachdem sich der Abgrund aufgetan hat, sitzt er vor 24 Aktenordnern.

Ermuss sie durchforsten und herausbekommen, wieso nach dem Jahr 1998 alles schiefging in Thüringen, wieso die drei Rechtsextremisten erfolgreich abtauchen konnten.

"Das Amt war ein reiner Trümmerhaufen", erinnert sich Gentzel an die Zustände im Landesamt für Verfassungsschutz. Ständig habe es Personalprobleme und Indiskretionen gegeben. "Journalisten wussten mehr als wir in der PKK."

Für Gentzel war der damalige Chef des Verfassungsschutzes, Helmut Roewer, mehr ein Problem als ein Präsident: "Ein Paradiesvogel. Der hat seine eigene Show gemacht." Damals erzählten sie sich Geschichten in Erfurt über muntere Rotweinrunden, einen exzentrischen Präsidenten, der barfuß auftrat oder auf einem alten Herrenfahrrad bei Neonazidemosauftauchte, einen Schlapphut auf dem Kopf, eine Digitalkamera um den Hals. Der Präsident knipste selbst - und genoss es wohl, wenn ihn Fotografen dabei ablichteten.

Von 1994 bis 2000 war der heute 61-jährige Roewer Chef der Behörde. Er schaltete und waltete, die damaligen Innenminister ließen ihn gewähren.Als Neonazis in Erfurt einen Schweinekopf auf das Gelände der Synagoge warfen und nachgefragt wurde, wo eigentlich der Präsident sei, hieß es schon mal, er sei auf Sizilien und komponiere.

2000 wurde Roewer suspendiert. "Es war höchste Zeit, dass er ging", sagt Gentzel. In Roewers Amtszeit waren führende Figuren der Thüringer Neonaziszene vom Verfassungsschutz als Informanten angeheuert worden, neben anderen Tino Brandt, damals Anführer des "Thüringer Heimatschutzes". Brandt, schrieb damals die Thüringer Allgemeine, habe sich mit Geld des Verfassungsschutzes erst zu einer Führungsfigur hochgearbeitet. Über 200 000 Mark soll er als Spitzellohn bekommen haben. "Das Geld ging über die V-Leute in die Strukturen der NPD", sagt Gentzel. "Für uns war damals das Fass voll." Bis heute hält sich hartnäckig der Verdacht, der Dienst habe die Szene erst richtig zum Blühen gebracht. "Für Roewers Amtszeit halte ich alles für denkbar."

Fünf Jahre nach seiner Suspendierung stand Roewer wegen Untreue vor Gericht. Drei Jahre ging das bizarre Verfahren, dann wurde es abgebrochen, weil Roewer verhandlungsunfähig war. 2010 wurde es ganz eingestellt gegen eine Geldauflage von 3 000 Euro. An manchen Verhandlungstagen bog sich das Publikum vor Lachen, wenn Buchtitel vorgelesen wurden, Bücher über Kunst, Malerei, Geschichte, Bildbände, Literatur über den Mittelmeerraum - lauter schöne Sachen, alle angeblich angeschafft für den Verfassungsschutz.

Wie Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt 1998 verschwinden konnten, angeblich unbeobachtet blieben, angeblich nicht zu finden waren, vielleicht findet Gentzel einen Hinweis in seinen 24 Aktenbänden. 2001 kappte der Verfassungsschutz angeblich die Verbindungen zu seinen Top-Neonazispitzeln. Jetzt ist alles wieder hochgekommen. So entsetzlich die Ereignisse schon sind, für Gentzel könnte alles noch schlimmer kommen: "Wenn einer von den dreien ein V-Mann war oder vom Verfassungsschutz gedeckt wurde, das ist dann der Super-Gau." Ausschließen mag er das nicht, auch wenn bislang keine Hinweise vorliegen. Er glaubt halt an gar nichts mehr.