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Straßenverkehr Straßenverkehr: Endstation Klinik

Von Katrin Löwe 06.05.2012, 16:59

Halle (Saale)/MZ. - Seine Tochter ist gerade 18 geworden. Wenn sie den Motorradführerschein macht, wird wohl auch Frank Wernicke wieder einmal fahren. Er wird die Faszination auf zwei Rädern erleben, auf die er zuletzt verzichtet hat. Aus Zeitgründen. Abgesehen davon hat er aber auch ein ganzes Stück Respekt vor den Gefahren, die man als Biker nicht zwingend selbst heraufbeschwören muss. Es sind unbestreitbare Risiken, deren mitunter dramatische Folgen für den 49-Jährigen zum Alltag gehören.

Wernicke ist Unfallchirurg, leitender Arzt in der Notfallaufnahme der halleschen Unfallklinik Bergmannstrost. Wenn die Sonnenstrahlen Motorradfahrer wieder auf die Straße locken, weiß er, was ihm und seinen Kollegen bevorsteht - "vor allem zum Saisonauftakt und an schönen Wochenenden". Zwei, drei Motorradfahrer pro Woche sind von März bis November der Schnitt in der Klinik, deren Einzugsbereich aufgrund ihrer Spezialisierung als hochmodernes Traumazentrum weit über Halle hinausgeht. Pro Wochenende wird meist mindestens ein Kradfahrer eingeliefert. "Meist", sagt Wernicke, "passiert es am Sonntagnachmittag". Auf dem Heimweg, wenn die Spannung aus der Motorradtour raus ist. Und wenn Biker ins Bergmannstrost kommen, ist es selten nur ein verstauchter Knöchel. Vom Schädel-Hirn-Trauma über Rippen-Serienfrakturen bis hin zu gebrochenen Beinen: die Liste der Verletzungen ist lang, meist treffen zwei oder drei zu.

Und auch für Mediziner, die zunächst mit kühlem Kopf behandeln müssen, gibt es sie - Fälle, die in Erinnerung bleiben. Motorradfahrer, die im Rollstuhl enden, gehören dazu. Oder der Mann Anfang 40, von dem Wernicke erzählt. Ihm wurde auf dem Weg zur Arbeit ein Autofahrer zum Verhängnis, der ohne Vorwarnung links abbog. Genickbruch. Da waren alle Mühen der Mediziner vergebens. Das, sagt auch der ärztliche Direktor Gunther Hofmann, sind Situationen, die selbst nach 20, 30 Berufsjahren einen Arzt und sein Team belasten. "Die Momente, wenn man verliert."

29 der 181 Verkehrstoten Sachsen-Anhalts starben im Vorjahr bei Unfällen mit Motorrädern - drei mehr als 2010. Laut Innenministerium wurden 274 Menschen schwer verletzt. Die meisten Sorgen macht der Polizei der Harz. Mit seinen bergigen Strecken, den vielen Kurven reizt er Motorradfahrer besonders. Ist aber auch ein Unfallschwerpunkt. 2011 mussten im Harzkreis 166 Unfälle aufgenommen werden, an denen Motorräder beteiligt waren. Bilanz: acht Tote, 49 Schwer- und 66 Leichtverletzte. Weil die Statistik in Thüringen und Niedersachsen ähnlich ist, gibt es seit Jahren eine länderübergreifende Sicherheitsaktion (siehe "Zahlreiche Kontrollen...").

Oft einfach Pech

Wernicke und Hofmann indes sind auch aus ihrer Erfahrung heraus weit davon entfernt, ein pauschales Bild vom Motorradrowdy zu zeichnen. "Viele fahren sinnig", sagen beide. Haben oft einfach Pech, ausgelöst durch Ölflecke, wechselnden Straßenbelag und Fahrbahnschäden - oder die Fehler anderer. An 40 bis 45 Prozent der Unfälle in Sachsen-Anhalt waren die Biker laut Statistik in den vergangenen Jahren nicht schuld, das Essener Institut für Zweiradsicherheit schrieb zu Saisonbeginn noch, dass bei 70 Prozent aller Kollisionen zwischen Auto und Motorrad "die Zweiradpiloten von den Autofahrern schlicht übersehen oder hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit falsch eingeschätzt" werden. Auf der anderen Seite: Übermütige Raser und Hobby-Biker jeder Altersgruppe, die sich überschätzen.

In punkto Sicherheit - und Sicherheitskleidung - habe sich in den vergangenen Jahrzehnten aber einiges getan, sagen die Mediziner. "Es ist selten, dass hier ein Motorradfahrer in Turnhose ankommt", so Wernicke. Da machen Mofa- und Rollerfahrer, die den Alltag inzwischen mehr bestimmen, größere Sorgen: bestenfalls tragen sie Helm, nicht selten sind sie nur leicht bekleidet oder in Sandalen.

Allein durch das Tempo, bei dem sie verunglücken, sind die Folgen für Motorradfahrer aber oft dramatischer. Ein Vierteljahr Klinik mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma, drei bis sechs Wochen bei Brüchen an den Extremitäten - und monatelange Krankschreibungen, nach denen im Zweifel der Job weg ist. "Es wird unterschätzt, was eine Sekunde Unachtsamkeit für Folgen haben kann", sagt Hofmann. Und dass selbst bei Beinverletzungen die "Skala des medizinischen Grauens" nach oben offen ist. An Unterschenkel und Fuß gebe es nach Operationen am häufigsten Komplikationen. Knochenentzündungen, an denen der Patient im schlimmsten Fall Jahre leidet - bevor doch amputiert werden muss.

Einfühlungsvermögen gefragt

Im Bergmannstrost erleben die Mediziner aber nicht nur die körperlichen Folgen. Sie erleben auch den "ganz kritischen Moment", wie Wernicke sagt, wenn ein schwer Verunglückter nach dem Aufwachen realisiert, was geschehen ist. Psychologische Betreuung gehört bei Amputationen, Lähmungen oder dem Tod Unfallbeteiligter zwingend dazu. Auch manch anderer brauche Hilfe. "Da muss man selbst als Unfallchirurg Einfühlungsvermögen haben", sagt Wernicke. Und sich auch schwierigen Gesprächen mit Angehörigen stellen, sie wieder aufbauen. "Wenn alle verzweifeln, nützt das nichts."

Was sie sich wünschen? Dass sich Mofa- und Rollerfahrer sicherer kleiden. Pkw-Fahrer den Abstand zu Bikern und deren Tempo besser einschätzen. Und Motorradfahrer gerade zu Saisonbeginn nicht ihre Grenzen ausreizen. Bis gestern Nachmittag - das schlechte Wetter mag seinen Beitrag geleistet haben - schien der Wunsch für dieses Wochenende im Bergmannstrost in Erfüllung zu gehen.