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Staßfurt Staßfurt: Abstieg in die Unterwelt

Von Hendrik Kranert 06.12.2006, 19:46

Staßfurt/MZ. - Draußen vor dem Salzlandtheater in Staßfurt hämmert ein gewaltiger Dieselmotor. Er treibt ein Bohrgestänge an, das sich seit gestern Zentimeter für Zentimeter in den Untergrund der Stadt südlich von Magdeburg frisst. Drinnen im Tillysaal des Theaters ist davon nichts zu spüren. Auffällig sind nur die verbogenen Balken, die schiefe Decke und die tiefen Spalten im Stuck des 500 Jahre alten Renaissancebaus. Es ist ausgerechnet der gewaltige Bohrer, der den Ursachen für den windschiefen Saal auf den sprichwörtlichen Grund gehen soll.

Schuld an den Deformierungen ist der Abbau von Kalisalz, aus dem der erste industrielle Pflanzendünger gefertigt wurde. In Staßfurt entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Schächte. Der Kaliabbau verhalf der Stadt, die schon im Mittelalter gut vom Steinsalz leben konnte, zu einem industriellen Aufschwung, "von dem wir bis heute zehren", sagt Bürgermeister Martin Kriesel (CDU). Doch das Kali wurde für die Stadt auch zum Fluch. 1899 / 1900 soffen sämtliche Gruben ab - mit verheerenden Folgen. Das Grundwasser schwämmte die Salzlagerstätte aus, so dass riesige Hohlräume entstanden. In der Folge sackten weite Teil der Innenstadt ab. Auf einer Fläche von 150 Fußballfeldern hat sich der Boden inzwischen um bis zu sieben Meter gesenkt, 850 Häuser mussten bis 1989 abgerissen werden. "Die Innenstadt wurde de facto aufgegeben", sagt Kriesel.

Immerhin: Der weltweite Kalibergbau habe von den "schmerzhaften Erfahrungen" der Stadt profitieren können, sagt der Leiter des Landesamtes für Geologie und Bergwesen, Armin Forker. Der Fehler, die Schächte nicht tief genug anzulegen, wurde nicht wiederholt. Doch Staßfurt selber ist noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Nach wie vor sind 75 Hektar der Innenstadt, das entspricht 75 Fußballfeldern, nicht bebaubar. "Die Senkungen dauern an. Und wir wissen nicht genau, ob sie direkte Folgen des Bergbaus oder Folgen geologischer Prozesse sind", sagt Forker.

Ein bislang einzigartiges Forschungsprojekt soll dies ändern. Deshalb dreht sich auch der Bohrmeißel vor dem Salzlandtheater. Doch die insgesamt drei Bohrlöcher sind nur ein kleiner Teil des 8,6 Millionen Euro teuren Vorhabens, an dem allein vier deutsche Universitäten sowie weitere Firmen und Forschungseinrichtungen beteiligt sind. Um Störungen im Boden erkennen zu können, werden winzige Erdbeben ausgelöst. Ergänzt werden diese Messungen mit magnetischen und laser-gestützten Untersuchungen per Hubschrauber und Flugzeug. Selbst per Satellit wird die Staßfurter Unterwelt unter die Lupe genommen.

"Wir wollen genau wissen, was da unten vor sich geht, auch um Schlussfolgerungen für andere Bergbauregionen gewinnen zu können", sagt Projektleiter Johannes Gerardi von der Bundesanstalt für Geowissenschaften. Bürgermeister Kriesel hingegen hofft auf gute Nachrichten für seine Stadt: "Wir würden gern das Bergschadensgebiet verkleinern, um in der Innenstadt wieder Investitionen zu ermöglichen." Im Anschluss an die drei Jahre dauernden Untersuchungen sollen daher auch Vorschläge stehen, wie die Senkungen gestoppt werden können. Wirtschaftsminister Reiner Haseloff (CDU) kündigte an, dass das Land "langfristige finanzielle Vorkehrungen treffen muss", um weitere Schäden zu verhindern.

Wie groß das Bedürfnis der Staßfurter ist, dass endlich Ruhe im Untergrund herrscht, erfuhren gestern die Bohrleute der Firma Anger. "Die Anwohner und der Wirt der Kneipe um die Ecke haben uns schon eingeladen", erzählt Ralf Friedrich. Die Hoffnung sei groß. Trotz des Lärms, der nun täglich von der Bohrung dröhnen wird.