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Sachsensumpf Sachsensumpf: In den Dreck gezogen

Von BERNHARD HONNIGFORT 25.06.2009, 17:29

LEIPZIG/MZ. - Als er am Montagmorgen aufwachte, hatte er sich in "Ingo" verwandelt, ein sexgeiles Monstrum.

Im "Spiegel" konnte er nachlesen: "Ingo war kein feiner Mann. Ganz sicher keiner, um den sich Frauen gewöhnlich stritten. Er hatte wenig Ähnlichkeit mit Adonis, war nicht sonderlich freundlich und neigte zu Grobheiten. Interessiert war er eigentlich nur an einem: hartem Sex mit blutjungen Frauen." Es war ein Artikel über zwei Seiten, der sich mit Juristen in Sachsen befasste, die angeblich in dem bis 1993 in Leipzig existierenden Bordell "Jasmin" ein und ausgingen. Der Name Jürgen Niemeyer fiel in keiner Zeile. Doch wer lesen konnte, sich ein bisschen auskannte und das nur im Gesicht unscharf gemachte Bild Niemeyers betrachtete, der begriff schnell, wer mit dem "ranghohen Richter des Landgerichts Leipzig" gemeint war. Danach ging pausenlos das Telefon. Freunde riefen ihn an, ehemalige Kollegen. Alle wollten wissen, was denn los sei. "Es war unfassbar", sagt Niemeyer. Seit jenem Tag beteuert er seine Unschuld. Seit jenem Tag kämpft er gegen Misstrauen und Zweifel. Sogar bei Freunden. "Mein Ruf als Richter war ruiniert. Ich bin seitdem verbrannt."

Er sitzt in seinem Anwaltsbüro in München. Auf dem Tisch Akten und Zeitungsartikel, Kopien von Klageschriften - Dokumente eines zerstörten Ansehens. "Das werde ich doch nie wieder los", sagt Niemeyer. Die Maxime eines Richters: ein Angeklagter ist unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist - in seinem Fall wurde sie ignoriert. Im Internet stehe heute noch seine "Geschichte", auf obskuren Verschwörerseiten. "Die Leute denken, wo Rauch ist, ist auch Feuer."

Im Herbst wird er 70. Ein drahtiger, freundlicher Herr, randlose Brille, kurzes Haar. 1992, seine Ehe in Stuttgart war zerbrochen, wechselte er als Jurist nach Sachsen, wurde Vorsitzender einer Jugendkammer in Leipzig. Später, bis zur Pensionierung 2004, war er Vizepräsident des Landgerichts, nebenbei Verfassungsrichter. Niemeyer gehörte zu denen, die in Sachsen mithalfen, eine rechtsstaatliche Justiz aufzubauen. Er sitzt in der Falle. Er kann reden, was er will. Nie habe er mit Prostituierten verkehrt, nie in seinem Leben habe er einen Puff besucht. Er zuckt mit den Schultern: "Es ist nicht zu reparieren."

Meterweise Akten

Niemeyer ist in einem Sumpf untergegangen, den es nie gegeben hat: im "Sachsensumpf". Im Frühjahr 2007 war es, als eine Handvoll Journalisten glaubte, die Geschichte ihres Lebens in Händen zu halten: Einige durchgeknallte Mitarbeiter des Verfassungsschutzes hatten über Jahre meterweise Akten angelegt über ein angebliches kriminelles Netzwerk aus Richtern und Staatsanwälten, Polizisten, Bauunternehmern und Politikern, eng verbandelt mit der organisierten Kriminalität und dem Rotlichtmilieu. Aus diesen Akten sickerte es in die Öffentlichkeit. Die Vorwürfe überschlugen sich: Juristen in Bordellen, Prostituierte im Leipziger Rathaus. Nichts schien unmöglich. Der Schriftsteller Jürgen Roth, angeblich ein Kenner der Organisierten Kriminalität, behauptete in einem Interview: "Die politischen Zustände in Sachsen sind nach meinen Recherchen ein tiefer korrupter, ja mafiöser Sumpf." Ein Sturm fegte über Sachsen dahin. Er entwurzelte das Vertrauen in

Rechtsstaat und Politik. Aber am Ende kam heraus: Es war alles falsch. Nichts ist von den Vorwürfen geblieben (siehe auch "Ein Motorschaden der Behörde").

Ein Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtages marschierte vor zwei Jahren los, den "Sachsensumpf" trockenzulegen. Er fand sich in einer Steppe wieder. Sogar die Linke und die Grünen blieben am Ende ratlos zurück: Man könne nicht beweisen, dass es diese korrupten Netzwerke gegeben habe, meinte die Linke, als jetzt die Abschlussberichte vorgelegt wurden. Man habe auch nicht beweisen können, dass es sie nicht gegeben habe, so die Grünen.

Jürgen Niemeyer ist in dem Irrsinn untergegangen. Und zwar folgendermaßen: Am 28. Januar 1994 hatte das Landgericht Leipzig unter Niemeyers Vorsitz den Bordellbetreiber Michael W. wegen schweren Menschenhandels, Zuhälterei und sexuellen Missbrauchs von Kindern zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. W. hatte gestanden. Bei dem als mild erachteten Urteil folgte Niemeyer der Forderung des Staatsanwaltes. Der kleine Kreis aus Verschwörungstheoretikern wurde auf ihn aufmerksam. War das Urteil nicht viel zu mild? Gegen Niemeyer wurde wegen Strafvereitelung im Amt ermittelt. Das Verfahren wurde eingestellt.

Für Niemeyer war der Fall erledigt, Jahre waren vergangen, da erwischte es den pensionierten Richter: Zwei Ex-Prostituierte wollten ihn auf Nachfragen von Journalisten als Freier "Ingo" wiedererkannt haben - 15 Jahre, nachdem Michael W.s Bordell in Leipzig von der Polizei ausgehoben worden war. Zwei Frauen aus jenem Bordell. 1994, als sie vor Gericht als Zeuginnen aussagten, als sie vor Niemeyers Richtertisch standen, da hatten sie ihn nicht erkannt. Aber 2008 kam plötzlich die Erinnerung. Die anderen Frauen aus dem "Jasmin" hatten Niemeyer nicht erkannt, auch der verurteilte Bordellbetreiber will ihn vor dem Prozess nie gesehen haben. Aber in dem Aktenhaufen des Verfassungsschutzes stand irgendwo, der Niemeyer sei jemand, der gelegentlich sexuell auf Kinder zurückgreife, beispielsweise auch in Thailand.

Frauen vor Gericht

Als Quelle der ungeheuerlichen Anschuldigung wird "Gemag" genannt, ein getarnter Hauptkommissar. Aber auch das löste sich in Luft auf. Hauptkommissar Wehling hatte schon Monate vorher, im August 2007, gegenüber der Dresdner Staatsanwaltschaft bestritten, Urheber dieser Beschuldigungen gegen Niemeyer und andere gewesen zu sein. Und als der Untersuchungsausschuss des Landtages kürzlich eine der beiden Frauen als Zeugin lud, war bei ihr von "Ingo" keine Rede mehr.

Niemeyer einmal selbst zu Wort kommen zu lassen, hielt man nicht für nötig. Auch die Staatsanwaltschaft hatte die Aussagen der Frauen geprüft und sie vernommen. In sich widersprüchlich, untereinander widersprüchlich, völlig unglaubwürdig - so das Ergebnis. Auf die Frage, warum sie den angeblichen Freier denn nicht schon 1994 erkannt habe, kam die Antwort, sie habe den Richter damals nie angesehen, sondern die ganze Zeit auf einen Punkt an der Wand gestarrt. Die beiden Frauen stehen demnächst in Dresden vor Gericht. Wegen übler Nachrede.

Niemeyer nützt das wenig. Seine "Geschichte" wird weiter durchs Internet geistern. Er ist gezeichnet für den Rest des Lebens.