Spaß an der Eskalation Walter Lübcke: Trägt AfD-Propaganda Mitschuld am Tod des Regierungspräsidenten aus Kassel?

Die Sätze, die Martin Reichardt am 29. Juni in die Welt schickt, sind nicht besonders aggressiv, jedenfalls nach AfD-Maßstab. „Ideologische Verblendung oder Dachschaden?“, schreibt Sachsen-Anhalts AfD-Vorsitzender über Grünen-Chefin Annalena Baerbock.
Es geht um deren verquere Aussage, das Zittern der Kanzlerin sei eine Folge des Klimawandels; ein Satz, für den sich Baerbock da bereits entschuldigt hatte. Dachschaden?
Reichardts Anhänger lassen sich nicht lange bitten. „Verblödet“ sei die Grüne, schreiben sie sofort, von „Hitzeschaden“ ist die Rede, „Gehirn ausgetrocknet“, „Dürre im Hirnkasten“. Der übliche Ton, der Foren wie Twitter und Facebook seit Jahren zur Pöbel-Hölle macht - und der dazu führt, dass einige Grenzen überschreiten. „Merkel hat die gleiche Krankheit wie Hitler“, schreibt einer unter Reichardts Tweet, „eine Hirnerkrankung.“ Das Zittern komme „vom Volksverrat“, schreibt ein anderer.
Mord an Walter Lübcke: Zusammenhang zu Hetze im Internet?
Seit dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke wird über solche Sätze neu diskutiert. Gegen den Kasseler Regierungspräsidenten wurde monatelang im Internet gehetzt, unter Mordverdacht steht ein Rechtsextremist. Könnte es - möglicherweise - einen Zusammenhang geben zwischen dem „Volksverräter“-Geschrei und einem politischen Mord?
Martin Reichardt sitzt in einem sehr warmen Besprechungsraum der AfD-Parteizentrale im Süden Magdeburgs. „Absurd“ sei der Vorwurf, seine Partei trage Mitverantwortung, sagt er. Unter den gegelten dunklen Haaren glitzern Schweißperlen, den dunkelblauen Blazer legt er nicht ab. Reichardt setzt eine empörte Miene auf. „Man kann nicht jemanden, der ein Problem wie illegale Einwanderung anspricht, dafür verantwortlich machen, dass sich Verbrecher auf den Weg machen.“ Die AfD wolle politisch arbeiten, sagt er. Gewalt lehne die Partei ab.
Wie passt dazu die Ankündigung seines Bundesvorsitzenden Alexander Gauland, man werde die Kanzlerin „jagen“? Reichardt zeigt sich ungerührt. Das sei doch nur eine Metapher, sagt er, es gehe gewissermaßen um ein politisches Jagen. „Es hat doch nie jemand ein physisches Jagen wie bei einer Wildjagd gemeint.“
Martin Reichardt (AfD): Für die Linken bin ich ein Nazi
Seit gut einem Jahr führt der frühere Bundeswehroffizier den AfD-Landesverband, im Hauptberuf ist er Bundestagsabgeordneter. Niemand wird ihm vorwerfen können, Gewalt zu rechtfertigen. Aber er setzt auch kein Stoppzeichen, wenn AfD-Anhänger gewählte Politiker als Feinde bezeichnen oder Merkel „wie Hitler“ eine Hirnerkrankung bescheinigen. „Diesen Tweet habe ich gar nicht wahrgenommen“, sagt Reichardt. Er lese nicht jede Antwort. „Gelegentlich“ zeige er Twitter-Posts an. Ein konkretes Beispiel kann er nicht nennen.
Reichardt hat selbst Spaß am Austeilen. Den Juso-Vorsitzenden nennt er einen „etwas aufgeschwemmten Berufsjugendlichen“, den Grünen-Politiker Jürgen Trittin einen „Grünen Khmer“. Die frühere Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, Margot Käßmann, zählt er gar zu den „Sendboten des Antichrist“. Harmlos, findet Reichardt. Im übrigen reagiere er nur auf den Duktus der Linken. „Für die bin ich ein Nazi. Da nehme ich mir das Recht, zugespitzt zu formulieren.“
Sechs Jahre alt ist die AfD, in Sachsen-Anhalt hat sie ihr bis heute bestes Ergebnis auf Bundes- oder Landesebene erzielt: 24,3 Prozent. Eingefahren hat die Partei das unter dem damaligen Landesvorsitzenden André Poggenburg; viele in der Partei sagen: trotz Poggenburg. Der gelernte Kühlerbauer und Kleinunternehmer galt als notorisch unzuverlässig und brachte die Partei regelmäßig mit Anleihen an Nazi-Vokabular in die Schlagzeilen. Im vergangenen Jahr gab Poggenburg alle Posten auf und verließ die Partei. Reichardt übernahm.
Als AfD-Landesvorsitzender beschimpfte er Deutschtürken, am Ende hatte er bei seinen eigenen Leuten keinerlei Rückhalt mehr: André Poggenburg ist tief gefallen. Nach dem Verlust aller Posten und dem Austritt aus der AfD gründete er die Kleinstpartei „Aufbruch deutscher Patrioten Mitteldeutschland“, Mitgliederzahl nach eigenen Angaben: etwa 65. In zwei Monaten tritt sie mit zwölf Kandidaten bei der sächsischen Landtagswahl an - Poggenburg selbst ist nicht dabei. Der Parteivorsitzende hofft jedoch, von einer schweren Panne seiner früheren Partei zu profitieren: Die AfD darf wegen Fehlern bei der Kandidatenaufstellung nur mit 18 ihrer 61 Listenkandidaten antreten. „Das kann für uns als zweite patriotische Kraft ein spürbarer Anschub sein“, sagt Poggenburg. Er selbst hatte zuletzt bei der Kommunalwahl in seiner Heimat Burgenlandkreis kandidiert und mit 562 Stimmen den Wiedereinzug in den Kreistag verpasst. Eine Rückkehr in die AfD schließt Poggenburg „derzeit“ aus. „Ich bekommen solche Angebote. Aber bei den jetzigen Zerrüttungen in der Partei kann ich mir das nur schwer vorstellen.“
Für den gebürtigen Goslarer ist die AfD nicht die erste Wahl. Als Jugendlicher trat er der SPD bei, Anfang der 1990er Jahre wieder aus. Aus Protest gegen den wiedervereinigungsfeindlichen Kurs unter Oskar Lafontaine, wie er sagt. Dann versuchte er es bei den Republikanern, schließlich bei der FDP. Etliche in der AfD halten ihn für einen Opportunisten. Reichardt hat aber eine Gabe, die auf Parteitagen gut ankommt: Er kann reden, eine Menge aufputschen. Seine Stimme dröhnt dann, bis er von Beifallsstürmen unterbrochen wird.
Im Bundestag ist er häufiger am Rednerpult. 17 Reden hat er bislang gehalten, sein Thema ist die Familienpolitik. Die Bundesregierung macht er für das Schwinden des deutschen Volkes verantwortlich. Er redet von der demografischen Krise - dass Deutschland heute mehr Einwohner hat als je zuvor, zählt für ihn nicht. Einwanderung sei nicht geeignet, die Probleme des Landes zu lösen. Praktische Vorschläge von ihm: Mehr Geld für die Demografieforschung, Steuererleichterungen für Familien, ein höheres Kindergeld, eine Besserstellung von Eltern bei Sozialleistungen und Rente, ein niedrigerer Mehrwertsteuersatz auf Produkte des Kinderbedarfs.
Zum Einsatz für Kinder zählt Reichardt auch jene Kundgebung, die die AfD in der vorvergangenen Woche abhielt. Anlass war ein sexueller Übergriff in Roßlau, tatverdächtig ist ein Mann aus Niger. Die AfD werde es nicht zulassen, „dass derartige Verbrechen relativiert werden“, twitterte der AfD-Landeschef. Zu dem Zeitpunkt hatten bereits der Oberbürgermeister von Dessau-Roßlau, ein CDU-Bundestagsabgeordneter sowie Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die Tat als abscheuliches Verbrechen verurteilt. Der AfD reicht das nicht. „Täter, Ursachen und Verantwortliche müssen klar genannt werden“, twitterte Reichardt. AfD-Anhänger wissen, wie sie das zu lesen haben: Merkel ist schuld.
Was ist mit den 391 Fällen von Kindesmissbrauch, die Sachsen-Anhalts Polizei im vergangenen Jahr aufgeklärt hat? Wo waren die Kundgebungen und Mahnwachen der AfD? Wiegt das mutmaßliche Verbrechen eines Afrikaners schwerer als das eines Deutschen? Der Fall von Roßlau sei eben in der Bevölkerung auf große Empörung gestoßen, sagt Reichardt im heißen Besprechungsraum. „Da stoßen ja zwei Dinge zusammen: ein Missbrauch und die Tatsache, dass der Täter gar nicht mehr in Deutschland hätte sein dürfen.“ Könnte das Problem Rassismus heißen? „Das hat mit Rassismus nichts zu tun“, sagt Reichardt. „Wir sind die Partei, die sich am klarsten gegen jeden Missbrauch wendet.“
Sachsen-Anhalts Parteichef wird gelegentlich der völkischen Parteiströmung „Der Flügel“ von Björn Höcke zugerechnet, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Reichardt will sich von diesem auch nicht distanzieren. Das Gründungsdokument des „Flügels“, die Erfurter Resolution, hat er aber nie unterschrieben. Er schwebt zwischen den Strömungen und versucht, die tief zerstrittene Partei zu einen.
Sein bislang größer Erfolg ist der jüngste Parteitag. In Möckern (Jerichower Land) kam die Landespartei im Februar zum ersten Mal überhaupt ohne Eklat aus, ohne Geschrei und Beschimpfungen. „Wir können, wenn wir geschlossen auf ein Ziel hinarbeiten, viel erreichen“, sagt der Landeschef und nennt das Abschneiden bei der Kommunalwahl als Beleg. Als einziger Landesverband habe Sachsen-Anhalt zudem das Bundestagswahlergebnis zur Europawahl noch steigern können. „Das ist auch ein Ergebnis der mittlerweile guten Zusammenarbeit und der Ruhe, die wir in der Partei haben“, sagt Reichardt.
Hinter den Kulissen freilich schwelen die alten Konflikte. Reichardts Generalsekretär Gordon Köhler kann sein Amt nicht ausüben, weil die Wahl angefochten ist, ebenso wie die des Landesschiedsgerichts. Es tobt ein Machtkampf zwischen dem „Flügel“ und einer zweiten Gruppe, angeführt vom AfD-Bundesvize Kay Gottschalk und dessen Verbündeten in Sachsen-Anhalt, vor allem Börde-Kreischef Steffen Schroeder. Diese Gruppe hat Parteiausschlussverfahren gegen die Partei-Promis Hans-Thomas Tillschneider und Frank Pasemann erzwungen. In beiden Fällen lautete der Vorwurf Paktieren mit Rechtsextremisten. „Dass die Verfahren scheitern, war von vornherein klar. Es ging nur darum, die beiden öffentlich zu beschädigen“, sagt einer aus der Führungsspitze im Land.
Reichardt kann sich halten, solange keine Seite die Oberhand gewinnt. Deshalb ist er innerhalb der Partei vorsichtig, vermeidet Kritik an anderen. Als alte Bilder auftauchen, die Anhalt-Bitterfelds Kreischef Daniel Roi auf einer Neonazi-Demo zeigen, kommt vom Freund zugespitzter Sätze: nichts.
Sind Verbindungen in die rechtsextreme Szene kein Problem für die Partei? Reichardt wirkt, als verstehe er die Frage nicht. „Das ist zehn Jahre her“, sagt er schließlich. Menschen könnten sich auch entwickeln. (mz)