Sieben Linden (Altmark Sieben Linden (Altmark): 150 Menschen leben im Ökodorf in Sachsen-Anhalt

Sieben Linden - Das Jahr 1997, irgendwo in der Altmark: 15 Männer und Frauen, sie nennen sich „Pioniere“, ziehen in einen alten Bauernhof auf dem platten Land und wollen ein Experiment wagen: Können wir ein Leben führen, bei dem wir die Umwelt nicht zerstören?
Eine von diesen Pionieren war Corinna Felkl. Gemeinsam mit ihren Mitstreitern hat sie in Bauwagen gewohnt, für das neue Dorf Wege gebaut, Brunnen gegraben und Häuser hochgezogen – nach strengen ökologischen Standards.
Heute wohnen hier 150 Menschen, in Sieben Linden, einem Dorf, das so umweltfreundlich wie möglich sein will. Ein einzigartiges gesellschaftliches Experiment im Selbstversuch.
Handys sind auf Sieben Linden verboten
20 Jahre später sitzt Corinna in der Bibliothek des Gemeinschaftshauses in Sieben Linden. Romane kann man hier ausleihen, Bücher über Politikwissenschaft, über Landwirtschaft, aber auch über Esoterik, Astrologie und Strahlung von Mobiltelefonen.
Handys sind auf Sieben Linden verboten und selbst wenn: Hier draußen hätte man ohnehin kaum Empfang. Zur „Rushhour“ fährt der Bus einmal pro Stunde in die nächste Stadt: Salzwedel. In Hamburg oder Berlin könnte man in zwei bis drei Stunden mit dem Auto sein, aber das wird hier, im Ökodorf, nicht gerne gesehen.
Ökodorf Sieben Linden: Kein Fleisch, keine Milch
Genau wie Fleisch, Milchprodukte, Menschen, die Flugzeuge benutzen und sowieso alles, was der Umwelt Schaden zufügt. Scheint ja ein aufregendes Leben zu sein, hier draußen. Corinna zuckt zusammen. „Ja, natürlich haben wir auch Spaß auf Sieben Linden!“ Lachfalten durchziehen ihr Gesicht. Unterhält man sich mit den Bewohnern des Ökodorfs über ihre Lebensführung, dann lässt sich keinem ein Wort der Sehnsucht entlocken. „Da draußen“, sagen sie dann, da würden die meisten doch nur leeren Werten hinterherrennen, wie in einem Hamsterrad. Sieben Linden scheint ihren Leben mehr Sinn zu verleihen als das Leben draußen.
Auf gut sechs Hektar Bauland wurden in dem Ökodorf in Sieben Linden elf Häuser und 40 Bauwagen gebaut, in denen heute 150 Leute Menschen wohnen.
Irgendwann sollen hier aber mal 300 Menschen wohnen. Der Dorfgemeinschaft gehören gut 100 Hektar Land, davon sind 65 Hektar Wald.
Wer hierherziehen will, der muss für gut 11.000 Euro Anteile an einer Genossenschaft zeichnen. Wer nicht seine eigene Wohnung in Sieben Linden bauen will, muss mindestens das Doppelte bezahlen, um in eins der elf Häuser ziehen zu dürfen. Privathäuser und -grundstücke gibt es nicht.
Innerhalb des Ökodorfes haben die Bewohner bis zu einem gewissen Grad Freiheit: Sieben Linden hat keinen Anführer und fühlt sich keiner Ideologie verpflichtet.
Die meisten Bewohner verdienen ihr Geld innerhalb des Dorfes, einige arbeiten aber auch außerhalb. Entscheidungen, die alle Bewohner treffen, werden nach dem Prinzip der Rätedemokratie in der Gemeinschaft getroffen.
Viele Bewohner von Sieben Linden arbeiten für das Dorf selbst. Corinna etwa ist beim Bildungsreferat angestellt. Andere Bewohner arbeiten im Auftrag der Dorfgemeinschaft im Wald: Antje und Julian zum Beispiel sind in diesem Waldteam. Es ist kalt, es nieselt, die Finger und die Zehen werden taub, aber Julian scheint das nicht zu stören.
Rätedemokratie im Ökodorf Sieben Linden
Er ist hier draußen, weil er einen Wald pflanzen will. Hainbuchen, Vogelkirschen und Zitterpappeln sollen hier auf kaum einem Hektar Waldfläche gedeihen. Vorher standen hier mal Kiefern: Sie wurden zu DDR-Zeiten gepflanzt, weil sie schnell und ohne Ansprüche wachsen, aber das Ökodorf hat sich entschieden, die Bäume den „kapitalistischen Verwertungszwängen“ zu entziehen und pflanzt hier jetzt lieber einen Miniwald aus seltenen Bäumen.
Entschieden hat Sieben Linden das in seiner Rätedemokratie: Einmal im Jahr wählt die Dorfgemeinschaft Fachräte, die dann über wichtige Fragen beraten und die beste Entscheidung für das Dorf treffen. Soweit die Theorie. Praktisch gibt es bei vielen Entscheidungen Streit und Tränen. Einige Beschlüsse stellen sich später als Fehler heraus, weil sie von Leuten getroffen wurden, die sich mit dem Thema nicht auskennen. Denn viele Bewohner in Sieben Linden wollen nicht mehr den Job ausüben, den sie vorher in der modernen Welt ausgeübt haben.
Bewohner mit Fachwissen im Ökodorf Sieben Linden gesucht
Auch der Streit um die Frage, wie man den Wald umforsten kann, verlief in Tränen. Die einen, unter ihnen Antje, haben sich dagegen gewehrt, überhaupt einen Baum zu fällen und wollten die neuen Bäume einfach unter die Alten setzen.
Das andere Lager, darunter Julian, wollte die Fläche lieber roden, damit die neuen Bäume genug Licht bekommen. Das Lager um Julian hat sich durchgesetzt und Antje muss mitziehen, denn die Entscheidungen werden von allen getragen.
Julian ist neu in Sieben Linden, er wohnt erst seit drei Monaten hier. Eigentlich, sagt er, dauere so ein Aufnahmeprozess wesentlich länger. Aber Bewohner, die Fachwissen einbringen können, werden bei den Aussteigern dringend gesucht und so konnte man Julians Aufnahmeprozess dann doch etwas beschleunigen.
Er hat Forstwissenschaft studiert, in Eberswalde und Oregon. Er hat in England und Australien gearbeitet und die Welt bereist. Er könnte das Dreifache verdienen. Aber er will nicht. Wegen des berühmten Hamsterrades „da draußen“. Aber ist es „hier drin“ wirklich besser? Julian wird nachdenklich. Gräbt eine Vogelkirsche in die Erde, misst einen Meter Abstand, sticht den Spaten in den Boden und lässt die nächste junge Pflanze im Waldboden versinken. „Vielleicht gibt mir das Dorf auch nur das Gefühl, etwas Sinnvolleres in meinem Leben zu tun“, sagt er schließlich. Der Glaube, hier das Richtige zu tun, verfängt offenbar.
Ökodorf Altmark: Privatsphäre im Wohnwagen
Auch Antje, die lieber keinen einzigen der Bäume gefällt hätte, ist von der Idee eines Ökodorfs überzeugt. Allein: Die ewigen Entscheidungsprozesse strengen sie an. „Ich will nicht immer alles ausdiskutieren müssen“, sagt sie auf die Frage, ob sie ein Gemeinschaftsmensch sei. Früher hat sie sich in Sieben Linden eine Wohnung mit anderen Dorfbewohnern geteilt, dann ist sie in einen Wohnwagen gezogen, um mehr für sich zu sein. Jetzt wird ihr auch das zu viel. Sie überlegt wegzuziehen und bewirbt sich in einem Nationalpark in Norddeutschland.
Mehr Raum für Individualität. Und weniger Stress. Antje hat über Jahre Verantwortung übernommen im Waldteam, sie hat sich eingebracht und wollte etwas bewegen. Das ist hier nicht anders als „draußen“: Wer etwas verändern will, der muss viel tun. Antje ackert dutzende Stunden pro Woche im Wald, arbeitet in der „Waldkonzeptgruppe“ mit, einer Art Expertenkommission, und auch nach der Arbeit muss sie sich noch um Bäume und Büsche kümmern. Seit drei Jahren läuft sie jetzt schon im Hamsterrad der Aussteiger. Jetzt erzählt sie ihren Kollegen, dass sie vom Aussteigen aussteigen will.
Ein paar Tage später sind Wissenschaftler aus Italien im Ökodorf. Es ist ein besonderer Tag, denn die Wissenschaftler haben vier Jahre am ökologischen Fußabdruck des Dorfes herumgerechnet und heute wollen sie ihre Ergebnisse präsentieren.
Yves Bellinghausen
Der italienische Forscher Andrea Bocco bringt der Gemeinschaft im Ökodorf Sieben Linde schlechte Kunde: So umweltfreundlich zu leben, werde die Erde nicht retten, sagt der Wissenschaftler.
Yves Bellinghausen
Der italienische Forscher Andrea Bocco bringt der Gemeinschaft im Ökodorf Sieben Linde schlechte Kunde: So umweltfreundlich zu leben, werde die Erde nicht retten, sagt der Wissenschaftler.
Yves Bellinghausen
Der italienische Forscher Andrea Bocco bringt der Gemeinschaft im Ökodorf Sieben Linde schlechte Kunde: So umweltfreundlich zu leben, werde die Erde nicht retten, sagt der Wissenschaftler.
Julian und Antje sind im Wald und pflanzen Bäume. Corinna, das Urgestein, sitzt zusammen mit etwa 30 anderen Sieben Lindenern in einem Gemeinschaftsraum, der wie fast allen öffentlichen Gebäude hier, den Charme einer Jugendherberge versprüht.
Italiener vermessen ökologischen Fußabdruck in Sieben Linden
Vereinfacht gesagt wird beim ökologischen Fußabdruck ausgerechnet, wie viel Fläche Erde ein Mensch pro Jahr beansprucht. Damit wir unseren Lebensstandard halten können, dürfte jeder Mensch 1,7 Globale Hektar beanspruchen. Im Durchschnitt verbraucht jeder Deutsche allerdings 5,5 Globale Hektar. Langfristig können wir unseren Lebensstil also nicht halten.
Und Sieben Linden? Die Bewohner des Ökodorfs verbrauchen im Schnitt etwa vier Globale Hektar. Vier. Etwa doppelt so viel, wie die Umwelt verträgt. Wer kaum Fleisch- und Milchprodukte isst, zwei Drittel seines Obst und Gemüses selbst anbaut, kaum Auto fährt, Flugzeuge meidet, Ökostrom kauft, seine Häuser so umweltfreundlich, wie irgendmöglich baut und sogar seine eigene Pflanzenkläranlage betreibt, lebt immer noch über seine Verhältnisse?
Sieben Linden: Experiment am Rande von Sachsen-Anhalt
Es ist Abend geworden und die Wissenschaftler essen noch einen veganen Kartoffelauflauf in Sieben Linden. Der Leiter der Untersuchung, Andrea Bocco, kannte die Ergebnisse schon vorher und trotzdem schiebt er sich die Kartoffeln mit einer Melancholie in den Mund, als habe er gerade erst erfahren, dass die Welt nicht mehr zu retten ist. Aber gibt das Sinn, was die Leute hier veranstalten? „Ja, auf jeden Fall!“, sagt er überraschend zackig.
Sieben Linden sei nicht wichtig wegen der Treibhausgase, die seine Bewohner einsparen, sondern weil es einen Vorbildcharakter hat, mit weniger auszukommen. Trotzdem: Selbst wenn wir uns alle so einschränken, wie die Sieben Lindener, können wir den Planeten langfristig nicht retten? „Wenn wir unseren Planeten behalten wollen, dann hilft nur eins: Wir müssen weniger werden“, sagt Bocco voller Ernst, „Eigentlich dürften wir kaum noch Kinder bekommen.“
Sieben Linden: Das ist ein Experiment, das am Rande von Sachsen-Anhalt testet, wie weit eine Gesellschaft für den Umweltschutz gehen kann. Und zeigt, dass es trotzdem nicht genug ist. (mz)

