Ukraine-Krieg Nach Flucht aus Kiew: Wie Viktoriia Horobchuk ihr Trauma aufarbeitet
Die 35-jährige Ukrainerin erzählte in der MZ ihre dramatische Flucht mit zwei Söhnen. Jetzt ist sie in eine eigene Wohnung gezogen. Doch das Ankommen ist schwer.

Halle/MZ - Im dunklen Treppenhaus steht eine Tür offen. Viktoriia Horobchuk, weißer Pullover und helle Jeans, lehnt am Rahmen und winkt zu sich in die Wohnung herein. Hinter ihr hängt ein Schild an der Wand: „Herzlich willkommen in unserem Zuhause“.
Die Ukrainerin ist mit ihren zwei Söhnen erst vor kurzem eingezogen: drei Zimmer in einem Plattenbau in Halles Innenstadt, 55 Quadratmeter, 380 Euro warm. Es ist die erste eigene Wohnung der kleinen Familie, die vor den Bomben in Kiew nach Sachsen-Anhalt floh. „Es geht uns schon viel besser. Wir können selbstständig unseren Alltag gestalten. Jetzt geht es Schritt für Schritt weiter“, sagt die 35-Jährige.
Nach Flucht aus Kiew: Einrichtung durch Spenden
Horobchuk hat Kerzen angezündet an diesem Vormittag. „Ich mag es, wenn es gemütlich ist - und es muss aufgeräumt sein.“ Die Wohnung wirkt noch leer, die Zimmer sind mit den nötigsten Möbeln ausgestattet, heller Teppich wurde verlegt, ein Herd in der offenen Küche angeschlossen. Die Einrichtung hat Familie Köhler aus Teutschenthal organisiert. Sie hatte Horobchuk im März bei sich im Haus aufgenommen - mit dem 15-jährigen Danilo und Yanek, der ein Jahr und neun Monate alt ist. Die MZ begleitet die ukrainische Familie seitdem und wird auch weiterhin von ihrem Neuanfang in der Fremde berichten.
Der Umzug in eine Wohnung ist ein Stück Normalität in einem entwurzelten Leben. Die Mutter floh mit ihren Kindern am Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine. Sie schliefen in einem kalten Keller in einem Dorf im Norden des Landes. Nach Tagen im Versteck rannten sie um ihr Leben, sahen auf ihrem Weg Leichen und zerstörte Orte, kamen über Polen und Berlin nach Teutschenthal.
In Kiew gibt es noch immer vereinzelt Raketeneinschläge.
Viktoriia Horobchuk, Ukrainerin
Das Erlebte wird noch lange nachwirken. Laut ärztlichem Befund, den die MZ einsah, leidet die 35-Jährige an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie lebt außerdem in ständiger Angst davor, dass ihrer Familie in Kiew etwas passiert. Mutter, Oma und Stiefvater sind dort geblieben. „Die Nachrichten wühlen mich immer wieder auf. In Kiew gibt es noch immer vereinzelt Raketeneinschläge“, erzählt Horobchuk. Und doch muss sie in Halle auch ankommen und sich ein neues Leben aufbauen. Sie hat sich für einen Sprachkurs angemeldet, ihr Sohn Danilo wird bald die Ankunftsklasse eines Gymnasiums in Landsberg besuchen. Die Ukrainerin hat auch nach einer Arbeit gesucht. In Kiew war sie Friseurin. Arbeit war für sie immer wichtig für ihr Selbstverständnis als emanzipierte Frau, die den Alltag als Alleinerziehende stemmt.
In Halle hat sie ein kleines Netzwerk. Eine Freundin aus Kiew wohnt mit ihren Kindern im selben Wohnblock. Ihr großer Sohn Danilo hat Freunde unter den ukrainischen Flüchtlingen gefunden und ist oft unterwegs. „Er schläft manchmal auch sehr lange“, sagt Horobchuk und lacht. Und die Teutschenthaler Helfer kommen zu Besuch. „Ich bin dankbar, dass es so liebe Menschen gibt. Ich würde es sonst nicht schaffen.“
Ukraine-Krieg: Horobchuks Sohn soll schnell in eine Kinderbetreuung
Und trotzdem ist sie manchmal auch verzweifelt. „Ich brauche Raum für mich, ich muss mich jetzt auch mal um mich kümmern.“ Seit über zwei Monaten ist der Alltag vor allem durch den kleinen Sohn bestimmt, sie sind Tag und Nacht zusammen. „Die Flucht hat auch etwas bei ihm angerichtet. Er war sehr auffällig, hat viel geweint, war nervös. Jetzt ist er ruhiger, und er braucht Abwechslung, gleichaltrige Kinder.“ Horobchuks Arzt hatte zur schnellstmöglichen Kinderbetreuung für Yanek geraten. Damit seine Mutter zur Ruhe kommt.
Doch an diesem Punkt ist Horobchuk zum ersten Mal mit gründlicher deutscher Bürokratie konfrontiert. Es geht ihr zu langsam beim Jugendamt, das Kosten für eine Tagesmutter übernehmen soll. „Wir haben eine Tagesmutter gefunden, die Erfahrungen mit Kindern aus Kriegsgebieten hat. Es muss jetzt schnell gehen, aber das funktioniert nicht“, sagt Maryna Höbald. Die gebürtige Ukrainerin lebt seit Jahren in Halle und begleitet die zweifache Mutter sehr eng. Beim Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (Lamsa) betreut sie in der Koordinierungsstelle Ukraine auch andere Familien.

Immer öfter werden dort Fälle bekannt, in denen Kommunen für schnelle Hilfen zu langsam sind. „Je spezieller der Fall ist, desto länger werden die Wege“, sagt Igor Matviyets vom Lamsa. „Die Verletzlichsten unter den Geflüchteten fallen in den Verwaltungsprozessen oft hinten runter.“ Das betreffe Menschen mit Behinderungen, chronisch Kranke oder Traumatisierte. Geeignete Wohnungen finden, die medizinische Versorgung und Finanzierungsfragen in Ämtern klären, Fachärzte vermitteln, das bedeute „immer wieder telefonieren, nachhaken, warten“.
Der Flüchtlingsrat in Sachsen-Anhalt kritisiert das Krisenmanagement des Landes insgesamt: Es sei, so Projektleiterin Helen Deffner, „wieder nicht ausreichend vorbereitet. Es lastet viel Arbeit auf den Schultern der Ehrenamtlichen“. So fehle Wohnraum, Flüchtlinge würden inzwischen in Messehallen und anderen zentralen Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht. Gemietete Wohnungen seien teilweise „in einem inakzeptablen Zustand“. Es fehle auch Lehrpersonal und eine psychosoziale Betreuung. „Die Landesregierung muss langfristige Strukturen schaffen. Es wird auch in Zukunft immer wieder Fluchtbewegungen geben.“
Kriegsflüchtlinge in den Kommunen: Bürokratieabbau gefordert
Diese „Riesenherausforderung“ könnten Kommunen nur mit pragmatischeren Lösungen bewältigen, erklärt der Deutsche Städte- und Gemeindebund. Er fordert eine Senkung bürokratischer Hürden. „Wir erwarten von Bund und Ländern einen Krisenbewältigungsmechanismus, nach dem Standards und Bürokratie - jedenfalls für eine vorübergehende Zeit - ausgesetzt werden können“, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg der MZ. Das sei bei den Vorgaben im Bildungsbereich wie beispielsweise zur Qualifikation des Personals denkbar.
Ein paar Dinge, so Horobschuk, dauern in Deutschland länger. „Hier wartet man ein paar Wochen auf einen Internetanschluss, in Kiew ein paar Stunden. Ich gewöhne mich an die Unterschiede.“ Mit ihrer Familie in der Ukraine spricht sie täglich. Die Wohnung in Kiew gibt es noch, viele Teile der Stadt sind zerstört. Und die 35-Jährige fürchtet Schlimmeres. „Putin will Erfolge präsentieren. Vielleicht wird er den roten Knopf drücken.“ Ihr fehle zwar manchmal die Kraft für den Neuanfang in der Fremde. „Aber andere haben noch viel Schlimmeres durchgemacht, Freunde haben ihre Kinder verloren. Wir hatten einen großen Schutzengel: Wir leben.“