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BGH revidiert Stendaler Urteil Freispruch für Sachsen-Anhalterin nach Insulinüberdosis für sterbewilligen Ehemann

Das Landgericht Stendal verurteilte 2020 eine Seniorin, weil sie ihrem Mann beim Sterben half. Der Bundesgerichtshof revidierte das Urteil nun - und sprach die Seniorin frei.

Von Jan Schumann Aktualisiert: 11.08.2022, 17:31
Der BGH hat ein Urteil aus Stendal verworfen.
Der BGH hat ein Urteil aus Stendal verworfen. (Foto: Uli Deck/dpa)

Leipzig/MZ - Sie wollte ihren Ehemann vom Schmerz befreien: Der Bundesgerichtshof hat eine Seniorin aus dem Jerichower Land freigesprochen, die ihrem bettlägerigen Mann auf dessen Wunsch eine tödliche Überdosis Insulin gespritzt hat. Der Fall ereignete sich 2019: Damals hatte die frühere Krankenschwester ihrem leidenden Mann zuvor bereits eine Tablettenüberdosis überreicht - auch das auf sein Verlangen. Der 6. Strafsenat in Leipzig entschied nun: Die Frau habe sich „unter keinem Gesichtspunkt strafbar gemacht“.

Denn die Frau habe ihren Ehemann nicht durch aktives Handeln getötet, begründeten die Richter in ihrem Beschluss vom 28. Juni, der am Donnerstag veröffentlicht wurde. Ihr Verhalten stelle sich vielmehr als straflose Beihilfe zum Suizid dar, so der Strafsenat.

Damit revidierten die Richter ein Urteil des Landgerichts Stendal vom November 2020: Damals war die Frau wegen Tötung auf Verlangen zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden. Ihr Mann habe sein Leben in ihre Hand gelegt, argumentierten die Richter damals. In solchen Fällen gilt unter deutschen Juristen: Tötet ein Mensch einen anderen, der nicht mehr Herr der Lage sein kann, liegt eine Straftat vor. Allerdings verwarf der Bundesgerichtshof diese Deutung im aktuellen Verfahren: Sie werde „den Besonderheiten des Falles nicht gerecht“, so der Senat.

Richter: Mann handelte bewusst bis zum Schluss

Vielmehr glauben die Leipziger Richter: Nicht die Frau, sondern ihr leidender Ehemann, habe das Geschehen bis zum Schluss beherrscht. Den Todeswunsch habe er schon Anfang 2019 gehabt, er litt seit Jahrzehnten unter starken Rückenschmerzen: Als Jugendlicher hatte er eine Lendenwirbelfraktur erlitten, es folgte ein Bandscheibenvorfall in den Neunzigern. Ab 2016 musste er zu Hause von seiner Frau gepflegt worden, er hatte Depressionen, Diabetis, Schlafstörungen und Arthrose.

Der Leipziger Senat glaubt: Allein der Mann habe über die Einnahme des tödlichen Tabletten-Cocktails entschieden, die Insulinspritzen sollten nach seinem Plan „vor allem der Sicherstellung des Todeseintritts“ dienen. Im Beschluss heißt es: „Nach dem Gesamtplan war es letztlich dem Zufall geschuldet, dass das Insulin seinen Tod verursachte, während die Medikamente ihre tödliche Wirkung erst zu einem späteren Zeitpunkt entfaltet hätten.“ Zudem habe der Mann nach Tabletten-Cocktail und Insulin-Überdosis bewusst auf Hilfe verzichtet.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisierte, mit dem Richterspruch sei der „Damm zur aktiven Sterbehilfe gebrochen“. Vorstand Eugen Brysch erklärte, „der Bundesgerichtshof hat mit seiner Entscheidung das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen de facto aufgehoben“.