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Flüchtlingsstrom in Sachsen-Anhalt Flüchtlingsstrom in Sachsen-Anhalt: Weniger kommen, viele ziehen weiter

Von Steffen Könau 22.11.2016, 07:00
Willkommensgrüße wie hier im September 2015 in Kretzschau gab es im vergangenen Jahr bundesweit.
Willkommensgrüße wie hier im September 2015 in Kretzschau gab es im vergangenen Jahr bundesweit. Torsten Gerbank

Genthin/Magdeburg - In der Stunde der Not hatte das Finanzministerium in Magdeburg nicht viel Zeit, genau hinzuschauen. Über das Landesbauamt schloss das Ministerium vor einem Jahr einen Mietvertrag über drei Jahre zum Kostenpunkt von 880.000 Euro. Mietgegenstand: ein leerstehender Supermarkt in Genthin. Vermieter: Aus Sicht des Landes ein „Unternehmen mit Sitz in Hildesheim“, wie es im Ministerium heißt. In Wirklichkeit allerdings eine Briefkastenfirma mit Geschäftsadresse in der Steueroase Panama.

Zuschlag für Unterkunft in Genthin ohne Bewerbung

Doch es ging um die Unterbringung von Flüchtlingen in jenem heißen Flüchtlingsherbst, und alles musste schnell gehen. Ein Mann wie Claus Florin, 67 Jahre alt und nach eigener Aussage Chef der panamaischen Firma Bendix, der der frühere Rewe-Markt in Genthin gehört, kam da gerade recht. Ohne Ausschreibung bekam Bendix den Zuschlag.

Ebenso zügig mietete das Land das Maritim-Hotel in Halle als neue zentrale Aufnahmestelle (ZASt). Die Kapazität der bis dahin genutzten ZASt in Halberstadt wurde eilig vergrößert, weitere Hotels, Baumärkte und frühere Kasernen rückten in den Fokus, um die Flüchtlinge menschenwürdig unterbringen zu können.

Landesregierung war von 40.000 Flüchtlingen ausgegangen

Sachsen-Anhalt wollte vorbereitet sein. Schließlich hatte der Bund dem Land einen Zugang von bis zu 23.000 Schutzsuchenden für das Jahr 2015 vorhergesagt. Prognosen für 2016 lieferte die Bundesregierung zwar nicht, aber nach einer Analyse der tatsächlichen Entwicklung bei den Zugängen sei die Landesregierung im Herbst 2015 von bis zu 40.000 Personen ausgegangen, die über das Jahr 2016 hinweg hätten untergebracht werden müssen. „Die Kapazität der ZASt wurde von 800 auf bis zu 2.214 Plätze erweitert“, rechnet Christian Fischer vor. Hinzu seien rund 1.200 Plätze in den Außenstellen der ZASt im Landkreis Harz gekommen, beschreibt der Sprecher des Innenministeriums. Einschließlich aller angemieteten Hotels, Pensionen, Wohncontainer und Zeltcamps hatte das Land am Ende in 23 Liegenschaften 5.500 Plätze für die Unterbringung von Asylbegehrenden geschaffen.

Supermarkt Genthin und andere Einrichtungen werden nie einen Flüchtling annehmen

Plätze, die zwölf Monate später schon nicht mehr benötigt werden. Einerseits ist die Zahl neueinreisender Flüchtlinge drastisch gesunken. Kamen im November 2015 noch 200.000 Menschen neu nach Deutschland, waren es im Juli 2016 nur noch knapp über 16.000. Für Sachsen-Anhalt halbierte sich die Zahl der Neuankömmlinge beinahe: Waren es im Herbst letzten Jahres mehr als 3.300 im Monat, liegen die aktuellen Zahlen bei nur noch knapp 1.800.

Unterkünfte wie der Genthiner Supermarkt, der für eine Nutzung als Flüchtlingsheim erst über Monate hinweg hatte umgebaut werden müssen, haben so nie einen Flüchtling aufnehmen können. Und sie werden es auch nicht mehr. Andere Einrichtungen wie das Maritim-Hotel in Halle, das auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 640 Männer, Frauen und Kinder beherbergte, sind mit nur noch etwa hundert Bewohnern gähnend leer und stehen vor der Auflösung.

Zukunft für Sachsen-Anhalt nur durch Zuwanderung?

Kein Wunder. Denn von den 32.000 Menschen, die zwischen September 2015 und Oktober 2016 in Sachsen-Anhalt einen Erstantrag auf Asyl stellten, befinden sich im Augenblick nur noch 17.215 im Land - rund 15.000 in den Kommunen, der Rest in Landeseinrichtungen. Alle anderen haben Sachsen-Anhalt wieder verlassen, auf eigene Faust, „in der Regel ohne vorherige Abmeldung“, wie Christian Fischer erklärt. Und mit unbekanntem Ziel.

Die Hoffnung von Ministerpräsident Reiner Haseloff, die Herausforderung durch den Flüchtlingsstrom könne - gut bewältigt - langfristig Sachsen-Anhalts demografiebedingte Verluste von 16.000 Menschen pro Jahr ausgleichen, scheint sich nicht zu bewahrheiten. „Wir haben nur eine Zukunft, wenn es Zuwanderung gibt“, hatte der Landesvater dem Berliner „Tagesspiegel“ im Sommer vergangenen Jahres gesagt, als die Landesregierung noch mit Behelfs- und Übergangslösungen versuchte, der Lage Herr zu werden. 12.000 Menschen könne Sachsen-Anhalt pro Jahr aufnehmen, so Haseloff. Menschen, deren Kommen eine große Chance eröffne, „wenn es uns gelingt, sie zu integrieren“.

Ärger über Pläne für Genthin-Supermarkt

Auch in Genthin mühten sich zahlreiche Menschen genau darum, wie Thomas Barz beschreibt. 800 Flüchtlinge nahm seine Stadt mit ihren 11.000 Einwohnern auf. „Von Anfang an haben wir auf dezentrale Unterbringung und Integration gesetzt“, sagt der parteilose Bürgermeister. Schuleinzugsgebiete wurden aufgelöst, Kitas geöffnet, zum Abriss bestimmte Wohnblocks saniert. „Für eine Stadt, die auf rückläufige Bevölkerungszahlen eingerichtet ist, war das ein Ausnahmezustand“, sagt Barz. Ein „mittleres Dorf“ sei plötzlich zu integrieren gewesen. „Und wir haben das hinbekommen, mit den Bürgern zusammen.“

Böses Blut gab es erst, als die Landespläne mit dem alten Supermarkt durchsickerten. „Ich habe es im Radio gehört und bin aus allen Wolken gefallen“, erinnert sich Thomas Barz. Auf einmal grummelte es in der Stadt. Zu den 800 Neuankömmlingen noch mal tausend? Oder mehr? Niemand wusste etwas. „Wir haben das ganze Unverständnis der Leute abbekommen und waren doch selbst nur Zuschauer.

Ziele der Geflüchteten sind unbekannt

Etwa so, wie das Land den von Sachsen-Anhalt aus weiterreisenden Flüchtlingen zuschaut. Warum die Menschen gehen statt zu bleiben, ist der Landesregierung nicht bekannt. Auch über die Ziele der großen Flucht der Flüchtlinge aus Sachsen-Anhalt gibt es nur Vermutungen. Eine Vielzahl der Schutzsuchenden nutze Deutschland nur als Transitland, so Ministeriumssprecher Fischer. Die Gründe für ihre Weiterreise in andere europäische Länder seien nicht bekannt, aber viele hielten sich „nunmehr in Nordeuropa und Großbritannien auf“.

Zumindest finanziell ist das kein Verlust für das Land. Auswirkungen auf die Zahlungen des Bundes hat die Weiterreise eines Flüchtlings nur dann, wenn der Betreffende Deutschland insgesamt verlässt. „Die Zahlungen des Bundes an die Bundesländer richten sich nicht nach der konkreten Anzahl der Flüchtlinge in einem Bundesland, sondern nach der im gesamten Bundesgebiet“, erklärt Fischer.

Flüchtlinge kosten das Land nichts, solange sie Deutschland nicht verlassen

Zahlungen erfolgen nach der Anzahl der Flüchtlinge in Deutschland insgesamt und über die durchschnittliche Zeitspanne zwischen ihrer Registrierung in Deutschland bis zur Entscheidung des Asylantrages durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über den Asylantrag. Während dieser Zeit erhalten die Länder einen monatlichen Betrag von 670 Euro je Flüchtling. „Berechnet wird dies jedoch nicht länderscharf, sondern nach Zahlen der Flüchtlinge insgesamt in Deutschland in dem jeweiligen Monat.“ Die Aufteilung des Zahlbetrages auf die Länder erfolge dann nicht nach den tatsächlich im jeweiligen Bundesland aufgenommenen Menschen, sondern nach dem Anteil an der Umsatzsteuer, der dem jeweiligen Land auf der Basis des Länderfinanzausgleiches zusteht. Auch zusätzliche Zahlungen des Bundes etwa für Integrationspauschalen, Kinderbetreuung oder die Fürsorge für unbegleitete Minderjährige werden nach diesem Umsatzsteuerschlüssel zwischen den Ländern angewiesen. Nur bei den unbegleiteten Minderjährigen wirkt sich die konkrete Anzahl wirklich anwesender Jugendlicher auf die Höhe der Zuweisungen aus, weil hier zwischen den Ländern noch einmal ein Zahlungsausgleich pro Kopf erfolgt.

70 Familien bleiben trotzdem in Genthin

Für alle anderen Flüchtlinge gilt, dass ein Land, das wie Sachsen-Anhalt weniger Flüchtlinge hat als es theoretisch und nach den Rechenmodellen vom vergangenen Jahr haben sollte, finanziell keine zusätzlichen Belastungen aus der Differenz zwischen früheren Flüchtlingsprognosen und tatsächlicher Zahl schultern muss. Sondern ganz im Gegenteil finanziell von der Wirklichkeitslücke profitiert.

Wie es auf andere Weise auch Genthin tut. Immerhin 70 überwiegend syrische Familien, hat Thomas Barz gezählt, seien auch nach Anerkennung ihres Flüchtlingsstatus’ geblieben. „Wir nehmen das als Anerkennung dafür, dass wir uns so sehr um sie bemüht haben.“

(mz)

Im Maritim-Hotel in Halle sind nur noch etwa hundert Bewohner untergebracht.
Im Maritim-Hotel in Halle sind nur noch etwa hundert Bewohner untergebracht.
Holger John
Der ehemalige Supermarkt in Genthin.
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Simone Pötschke
Flüchtlinge kommen im Oktober 2015 in Bitterfeld an.
Flüchtlinge kommen im Oktober 2015 in Bitterfeld an.
Thomas Ruttke