Einschulung in Sachsen-Anhalt Expertin über Schreibenlernen - Lernen mit Fibel oder schreiben nach Gehör?
Mit der Einschulung beginnt für viele Kinder in Sachsen-Anhalt das Schreibenlernen. Wie Lehrer dabei vorgehen und wie Eltern helfen können, erklärt Expertin Anke Reichardt von der Uni Halle.

Halle/MZ - Aller Anfang ist schwer, das gilt auch fürs Schreibenlernen. Dabei hat sich der Fokus im Unterricht heutzutage deutlich verschoben: Rechtschreibung ist zwar weiter wichtig, im Zentrum steht jedoch die Lust am Schreiben. Was das bedeutet, darüber sprach kurz vor der diesjährigen Einschulung am Samstag MZ-Redakteur Matthias Müller mit Anke Reichardt. Als Professorin an der Universität Halle gehören der Schriftsprachenerwerb sowie die Entwicklung der Schreib- und Rechtschreibkompetenz in der Grundschule zu ihren Schwerpunkten in Lehre und Forschung. Zudem engagiert sie sich in der Weiterbildung von Lehrkräften.
Frau Reichardt, waren Sie schon in der Schule gut beim Schreiben von Diktaten?
Anke Reichardt: (lacht) Ja, ich war tatsächlich als Schülerin schon gut darin. Ich habe auch früh Geschichten geschrieben, mit ganz vielen Rechtschreibfehlern, und mochte den Deutschunterricht sehr gern.
Der Unterricht hat sich seither deutlich gewandelt. Ist es überhaupt noch zeitgemäß, Diktate zu schreiben?
Tatsächlich gibt es daran schon seit längerem, schon seit den 90er Jahren, starke Kritik. Man muss sich vor Augen führen, welche Kompetenz beim Diktat abgetestet wird. Eine Lehrerin diktiert Wörter, das Kind soll diese dann schreiben: Diese Situation gibt es so im Alltag eigentlich nicht. Das Erlernen von Rechtschreibung sollte man besser mit dem Schreiben von eigenen Texten verbinden - denn eigentlich geht es beim Schreiben doch genau darum.
Welchen Stellenwert hat Rechtschreibung heutzutage in der Schule?
Es hat ein grundsätzliches Umdenken stattgefunden. Mittlerweile wird die Frage gestellt: Wofür ist Rechtschreibung eigentlich wichtig? Sie ist ja eigentlich nur dafür gut, dass eigene Texte sicher und schnell von anderen gelesen werden können. Insofern steht immer im Zentrum, dass man als Schüler oder Schülerin Texte schreibt für sich und für andere - und dann geht es in einem zweiten Schritt darum, zu schauen, ob der Text auch gut lesbar ist. Dazu gehört als ein Aspekt von vielen auch die Rechtschreibung.
Soll das Schülern auch die Angst vor Fehlern nehmen?
Ja, ganz genau. In der Regel ist es so: Die meisten Kinder schreiben gerne Geschichten. Deshalb geht es im Unterricht jetzt vorrangig darum, die Kinder fürs Schreiben zu interessieren und tolle Anlässe dafür zu finden. Dabei wird zunächst eher der Inhalt des geschriebenen Textes in den Mittelpunkt gestellt - um dann natürlich auch darauf einzugehen, dass Grammatik und Rechtschreibung wichtig sind für die anderen, die den Text lesen.
Also einfach erst einmal ins Schreiben kommen?
Ja, am besten ist es sogar, dass Kinder möglichst schon vor der Einschulung ganz viel Erfahrungen sammeln mit Schrift. Vielleicht dürfen sie anderen etwas diktieren, oder sie beobachten die Großeltern beim Schreiben von Einkaufszetteln oder von Postkarten - und dann entwickeln die Kinder auch selbst Interesse am Schreiben und wollen das unbedingt lernen.
Das heißt aber nicht, dass Eltern vor der Einschulung bereits mit ihren Kindern lesen und schreiben üben sollten?
Ich würde das den Eltern auf gar keinen Fall empfehlen, sondern etwas ganz anderes. Sie sollten selbst Interesse an Schrift, Texten und Büchern zeigen und mit den Kindern auf Erkundung gehen. Man kann Zeitschriften und Plakate anschauen oder gemeinsam die Bedeutung eines Piktogramms herausfinden. Selbst Bilderbücher, die ganz ohne Sprache auskommen, kann man sich sozusagen von den Kindern vorlesen, also erzählen, lassen - das gelingt ihnen nämlich ganz gut.
Gilt das auch für Texte und Geschichten auf dem Handy oder Tablet?
Kinder dürfen auch schon am Handy den Umgang mit Texten und Sprache ausprobieren, bevor sie eingeschult sind - und zum Beispiel Sprachnachrichten versenden. Wenn ein Kind das tun will, dann würde ich es unbedingt unterstützen. Wir wissen, dass Kinder heutzutage viel mehr schreiben und lesen als frühere Generationen. Und das liegt auch an den modernen Medien. Die Bandbreite der Texte, die Kinder lesen, ist heute um ein Vielfaches größer. Und das ist per se nichts Schlechtes, im Gegenteil. Sie müssen dadurch lernen, zwischen Textsorten zu unterscheiden: beispielsweise zwischen dem Buch auf der einen Seite und dem Computerspiel auf der anderen, das ja häufig auch mit Texten und Informationen, mit Geschichten zu tun hat. Wir wissen, dass es den Kindern gut gelingt, zwischen verschiedenen Medien und Texten hin- und herzuwechseln. Es ist wichtig, dass sie diese Vielfalt auch wirklich kennenlernen und nutzen.
Mit dem Handy oder dem Computer schreibt man anders als mit Heft und Stift. Wirkt sich das auf den Erfolg beim Schreibenlernen aus?
Es macht auf jeden Fall einen großen Unterschied, mit welchem Werkzeug man schreibt. Die kognitiven Herausforderungen sind ganz andere, wenn ich mit der Hand schreibe. Ich muss mich auf vieles konzentrieren, von der Haltung des Stiftes über die Linie auf dem Blatt bis hin zur guten Lesbarkeit. Diese Herausforderung nehmen uns Handy und Computer ab. Ob Hand und Stift allerdings besser für das Schreibenlernen sind, ist bisher nicht hinreichend untersucht worden.
Immer wieder hört oder liest man auch von einem bestimmten Richtungsstreit: lernen mit der Fibel oder schreiben nach Gehör. Kann man hier über besser oder schlechter entscheiden?
Da müsste man jetzt weit ausholen und erst einmal genau definieren, was Fibelunterricht ist - und was Schreiben nach Gehör. Der Begriff wurde von Journalisten geprägt, wir verwenden ihn in der Unterrichtsforschung nicht. Es gibt generell unterschiedliche Ansätze, das Lesen und Schreiben zu unterrichten, und man kann sie enger an einer Fibel orientieren oder freier arbeiten.
In der Praxis gibt es dabei viele Überschneidungen: Eine Lehrkraft, die nach der Fibel unterrichtet, wird in Teilen auch mit offenen Angeboten arbeiten. Jemand mit offenen Ansätzen wird auf der anderen Seite auch Materialien und Aufgaben aus Sprachbüchern nutzen. Es ist selbst für Lehrkräfte ganz schwer zu definieren, nach welchem Ansatz sie genau unterrichten - es sind in der Regel Mischformen. Ich habe nie eine Lehrkraft kennengelernt, die nur nach Gehör schreiben lässt und die Rechtschreibung komplett missachtet. Das ist eher ein Mythos, der in den Medien kursiert.
Kann man ganz typische Rechtschreibfehler nennen, die wir alle machen, oder ist das eher individuell?
Es gibt tatsächlich ganz typische Rechtschreibfehler für bestimmte Altersstufen. Erwachsene machen besonders viele Fehler bei der Groß- und Kleinschreibung, bei der Getrennt- und Zusammenschreibung - und auch beim Unterschied zwischen „das“ und „dass“. Betrachtet man Kinder, dann verläuft bei ihnen allen das Erlernen der Rechtschreibung relativ ähnlich, sie machen Fehler nach ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe. Am Anfang werden einzelne Laute noch mit falschen Buchstaben beschriftet, zum Beispiel „Füsch“ statt „Fisch“. Etwas länger bleiben Fehler bei der Umlautschreibung, etwa „Hende“ statt „Hände“. Oder aber bei der sogenannten Auslautverhärtung, also „Hunt“ statt „Hund“. Besonders schwierig sind die Ausnahmeschreibungen wie „Pyramide“, von denen es aber gar nicht so viele gibt.
Es gibt das Vorurteil, dass Rechtschreibfehler etwas mit mangelnder Intelligenz zu tun haben. Hängt beides zusammen?
Auch hochintelligente Menschen können beispielsweise Legastheniker sein. Rechtschreibfehler fallen uns leider sofort ins Auge, anders als inhaltliche Schwächen. Viel wichtiger ist doch, dass ein Text seine Funktion erfüllt, dass der Leser oder die Leserin alle Informationen gut entnehmen kann. Rechtschreibfehler spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle.
Gibt es eigentlich Menschen, die völlig fehlerfrei schreiben?
Wir machen alle Fehler! Es gibt niemanden, der zu 100 Prozent fehlerfrei schreibt, wir lernen dabei alle im Laufe der Zeit immer noch dazu. Das ist nicht mit der vierten Klasse oder dem Ende der Schulzeit abgeschlossen. Das ist ein lebenslanger Prozess.