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DDR-Geschichte DDR-Geschichte: Wie ein Witz über Ulbricht das Leben eines 16-Jährigen veränderte

Von Simon Ribnitzky 10.02.2018, 08:42
Walter Ulbricht im Jahr 1968
Walter Ulbricht im Jahr 1968 imago/Stana Walter

Magdeburg - Plötzlich wird Carl-Gerhard Winters Stimme lauter. „Ich habe wochenlang Briefe an meine Mutter geschrieben - und dann erfahre ich, dass sie hier im gleichen Zellentrakt sitzt“, schimpft der 72-Jährige.

Die Ereignisse des Winters 1961/62 wühlen Winter noch immer auf, auch wenn er an diesem Februartag nicht zum ersten Mal öffentlich davon berichtet. Winter erzählt Besuchergruppen als Zeitzeuge in der Gedenkstätte Moritzplatz in Magdeburg von seiner Zeit in der Untersuchungshaftanstalt der DDR-Staatssicherheit.

Er beschreibt, wie er an einem Novembertag im Jahr 1961 in der Schule abgeholt, stundenlang verhört wurde und schließlich auf einer harten Holzpritsche die erste Nacht in Einzelhaft verbringen musste. In der Schule hatte Winter einen Witz über SED-Chef Walter Ulbricht, den er irgendwo aufgeschnappt hatte, weitererzählt.

Carl-Gerhard Winter wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verhaftet

In der Sporthalle hatte er vor Freunden die deutsche Nationalhymne gesungen, weil ihm die Melodie gefiel. Das reichte, um ihn in Haft zu nehmen - wegen „staatsfeindlicher Hetze“. Winter war zu dem Zeitpunkt 16 Jahre alt.

40 bis 50 solcher Zeitzeugengespräche gibt es in der Gedenkstätte Moritzplatz jedes Jahr. „Die Nachfrage ist riesig“, sagt Frank Stucke. Der Pädagoge organisiert und moderiert die Gespräche. Die Gedenkstätte könne auf sechs bis sieben aktive Zeitzeugen zurückgreifen, die regelmäßig für Besuchergruppen von ihren Erlebnissen berichten.

Manchmal gehen sie mit den Zeitzeugen auch in Schulen, sagt Stucke. Doch meistens finden die Gespräche im roten Backsteingebäude der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt statt. „Die Besucher sollen den historischen Ort erleben“, sagt Stucke.

Zeitzeugen anschaulich von ihrem Leid berichten zu lassen, um Erinnerungen wach zu halten und für die Zukunft zu mahnen - nicht nur in der Magdeburger Gedenkstätte ist das Format gefragt. In der Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn nahe der Grenze zu Niedersachsen gibt es jedes Jahr zwischen 25 und 30 solcher Gespräche.

„Wir haben einen Kreis von 15 bis 20 Zeitzeugen“, sagt der stellvertretende Leiter Matthias Ohms. Sie berichten über gescheiterte Fluchtversuche oder das Leben im Sperrgebiet.

Schülerprojekttag mit DDR-Zeitzeugen geplant

Auch die Landeszentrale für politische Bildung will in diesem Jahr ein Projekt mit DDR-Zeitzeugen starten. Fest geplant ist bereits ein Schülerprojekttag in der Gedenkstätte in Marienborn im April. Auch der Landestag „Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage“ im September soll sich schwerpunktmäßig der DDR-Geschichte widmen, wie der Sprecher der Zentrale, Martin Hanusch, berichtet. Im vergangenen Jahr führte die Zentrale zahlreiche Veranstaltungen mit Zeitzeugen der NS-Zeit durch. Das Projekt sei sehr erfolgreich gewesen.

Carl-Gerhard Winter berichtet seit fast 20 Jahren als Zeitzeuge über seine Haft im ehemaligen Untersuchungsgefängnis am Moritzplatz. „Ich treffe immer wieder Leute, die sagen, in der DDR war es doch gar nicht so schlecht“, sagt er über seine Motivation.

Ein Gespräch mit einem Zeitzeugen ändere häufig die Sicht der Leute. „Ich konfrontiere sie knallhart mit meinen Erlebnissen. Das ist geeignet, Menschen wachzurütteln.“ Hinterher kämen viele zu ihm, die sagen: „Das war mir so nicht klar, das hat meine Sicht verändert.“

„Es ist wichtig, dass man sich Ziele setzt, für die man kämpft“

Heute ist Winter auch Vorsitzender der Vereinigung der Opfer des Stalinismus in Sachsen-Anhalt. Der Verband berät Opfer des SED-Regimes und hilft ihnen bei der Rehabilitierung. Mehr als 10.000 Opfer politischer Verfolgung waren allein am Moritzplatz inhaftiert.

Winter kommt 1962 nach fast zehn Monaten Haft frei. Seine Mutter bleibt fast zwei Jahre in Haft. Winter macht eine Ausbildung zum Maschinenbauschlosser, holt das Abitur nach, studiert und promoviert, macht einen Facharzt für Toxikologie. Mehr als 20 Jahre ist er im Senat der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. „Es ist wichtig, dass man sich Ziele setzt, für die man kämpft“, sagt er rückblickend. Das habe ihm geholfen, Gefühle von Wut und Rache nach der erduldeten Ungerechtigkeit und Repression zu überwinden. (dpa)