1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Sachsen-Anhalt
  6. >
  7. #Baseballschlägerjahre: #Baseballschlägerjahre: Über ein Internet-Phänomen und lange Schatten der Vergangenheit

#Baseballschlägerjahre #Baseballschlägerjahre: Über ein Internet-Phänomen und lange Schatten der Vergangenheit

Von Alexander Schierholz 27.11.2019, 09:00
Der Baseballschläger gehörte zur Grundausstattung gewalttätiger Neonazis in den 1990er Jahren.
Der Baseballschläger gehörte zur Grundausstattung gewalttätiger Neonazis in den 1990er Jahren. imago images/Rüdiger Wölk

Halle (Saale) - In Andrea Johliges erster Wohngemeinschaft in Magdeburg lagen Pflastersteine auf einer Fensterbank. „Zur Verteidigung, falls mal Faschos kommen“, sagten ihre künftigen Mitbewohner, als die angehende Studentin sich um ein Zimmer bewarb. 1995 war das, und was es bedeutet, wenn „Faschos kommen“, also Neonazis, das wusste Johlige aus eigener leidvoller Erfahrung.

Andrea Johlige, die damals noch Dornbusch hieß, wuchs in Dessau auf und war zwölf, als die Mauer fiel. Zwei Jahre später wurde sie zum ersten Mal von Rechtsextremisten verprügelt. Sie waren bewaffnet mit Schlagstöcken und Baseballschlägern oder setzten schlicht ihre Fäuste ein: Junge, gewalttätige Männer, kahlgeschoren, Springerstiefel, Bomberjacke, die Jagd machten auf Andersdenkende oder Migranten - in den 1990er Jahren war das vielerorts Alltag, bis hinein ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends.

Eine Lehre der 1990er Jahre: Nie alleine unterwegs sein

Im Kurznachrichtendienst Twitter schildert Johlige, die heute Landtagsabgeordnete der Linken in Brandenburg ist, eindrücklich, was sie damals erlebt hat: „Ich weiß gar nicht, wie oft ich rennen musste... nicht nur einmal war ich zu langsam.“ Oder: „In meiner Erinnerung war am schlimmsten die Angst, die immer dabei war. Wenn was passiert ist, dann war es halt so. Aber die Angst, nicht zu wissen, ob man heil nach Hause kommt, die war immer da. Und es konnte jederzeit passieren.“

Hashtag „#baseballschlaegerjahre“: So wie die Politikerin berichten auf Twitter derzeit hunderte Menschen aus Ost- und Westdeutschland über ihre Erfahrungen mit prügelnden Neonazis in den 1990er Jahren. Es sind Geschichten vom Straßenterror. Und vom Versuch, ihm zu entgehen. Nicht nur Andrea Johlige und ihre Freunde in Dessau legen sich damals Strategien wie diese zurecht: Andere Wege nutzen. Plätze oder ganze Stadtviertel meiden. Und nie alleine unterwegs sein.

#Baseballschlägerjahre: „Gewissermaßen eine regellose Zeit“

„Von Neonazi-Gewalt waren in den 90er Jahren alle betroffen, die aus welchen Gründen auch immer nicht in das rechtsextreme Weltbild gepasst haben“, sagt David Begrich, Rechtsextremismus-Experte beim Verein „Miteinander“ in Magdeburg. Das konnten kirchliche Jugendgruppen aus dem Westen auf Ostbesuch sein. Schüler des Gymnasiums um die Ecke, bloß weil sie keine Neonazis waren. Oder Linke wie Andrea Johlige, die damals „eher punkig“ unterwegs war, wie sie sagt: Rastalocken oder die Hälfte des Kopfes kahl rasiert, immer Farbe im Haar. Das ist heute nicht anders: Zum Treffen im Potsdamer Landtag trägt sie roten Schopf zu roter Brille.

Hashtag heißt in sozialen Netzwerken im Internet ein Stichwort, unter dem Nutzer zu bestimmten Themen schreiben können. Charakteristisch ist die Raute vor dem jeweiligen Begriff.

Der Hashtag „#baseballschlaegerjahre“ ist von Christian Bangel ins Leben gerufen worden, einem Journalisten der „Zeit“. Vor einigen Wochen las er im „Freitag“ einen Text des in Stralsund (Mecklenburg-Vorpommern) aufgewachsenen Rappers Hendrik Bolz.

Bolz schildert darin seine Kindheit und Jugend im Plattenbauviertel, er berichtet von Sieg-Heil-Rufen auf dem Spielplatz und Neonazis, die „den öffentlichen Raum unangefochten beherrschten“.

Bangel war so beeindruckt von dem Text, dass er ihn auf Twitter teilte - und dazu aufrief, unter „#baseballschlaegerjahre“ eigene Erfahrungen mit gewalttätigen Rechtsextremisten zu schildern. Bis heute sind hunderte Twitter-Nutzer seiner Bitte gefolgt. (mz)

Anfang der 90er - das ist eine Zeit im Osten, in der die alten Autoritäten verschwunden sind und die neuen sich noch etablieren müssen. In der die Werte, die Lehrer gestern noch vermittelt haben, heute nichts mehr gelten. In der Eltern zigtausendfach arbeitslos werden und mit sich selbst beschäftigt sind. „Gewissermaßen“, sagt Andrea Johlige rückblickend, „eine regellose Zeit.“

Jugendliche im Osten auf der Suche nach Orientierung und Anschluss

In diesem Vakuum treffen alte Neonazis aus der DDR und ihre neuen Führungskader aus dem Westen auf Jugendliche auf der Suche nach Orientierung und Anschluss. Sie haben ein leichtes Spiel. Begrich spricht von einer rechten Jugendbewegung, die sich „ohne Widerstand im öffentlichen Raum“ habe ausbreiten können. „Rechts und rassistisch zu sein, Gewalt auszuüben, das war normal.“

Der evangelische Theologe erzählt von seiner Zeit als junger Vikar in der kirchlichen Jugendarbeit in Magdeburg und Potsdam: Desinteressierte und überforderte Eltern, prügelnde junge Neonazis - das war an der Tagesordnung. Polizei? Begrich winkt ab: „Wer sich nicht ganz dumm anstellte, konnte damit rechnen, nicht bestraft zu werden.“ Nicht, dass es einen rechtsfreien Raum gegeben hätte, aber: „Man konnte ziemlich sicher davon ausgehen, dass die Polizei nicht kam, wenn man sie gerufen hat.“

Experte: „Manche Jugendklubs wurden so zur Basis von Neonazis“

Andrea Johlige ist froh, dass sie und ihre Clique in Dessau damals mit der Zeit Rückzugsräume haben - das „Alternative Jugendzentrum“ AJZ, das es heute noch gibt, sowie den „Roten Keller“, einen linksalternativen Klub. „Bei anderen Jugendklubs konnte man nicht sicher sein, ob die nicht von Nazis dominiert sind.“ Auch das eine Folge weggebrochener Strukturen der Jugendbetreuung nach der Wende. „Manche Jugendklubs wurden so zur Basis von Neonazis“, sagt Rechtsextremismus-Experte Begrich. Begünstigt auch durch ein in den 1990er Jahren umstrittenes Konzept der Jugendarbeit, das Neonazis als Personen akzeptiert und ihrer Ideologie nichts entgegensetzt.

Alles lange her. Und nun reicht ein Hashtag auf Twitter, und alles bricht hervor. Es ist, als hätte jemand ein Ventil geöffnet. Aber warum ist das plötzlich wieder aktuell?

Die Schläger von früher sind nicht einfach verschwunden

Die Antwort: Weil die Schläger von früher nicht einfach verschwunden sind. Sie sind bürgerlich geworden. Haben eine Familie gegründet, ein Häuschen gebaut, einen SUV angeschafft. Und in ihren Köpfen? „Dass jemand, der über Jahre rechtsextrem sozialisiert worden ist, diese Prägung ohne weiteres ablegt, ist schwer vorstellbar“, sagt Begrich. Im Gegenteil, meint er: „Die rechte Jugendkultur hat damals gesät, was die AfD jetzt ernten kann.“ Viele aktive Neonazis der 90er fänden sich heute im Umfeld der AfD wieder - als Wähler. Gideon Botsch von der Emil-Julius Gumbel-Forschungsstelle für Antisemitismus und Rechtsextremismus in Potsdam geht im „Tagesspiegel“ sogar noch weiter: „Die AfD wird mitgetragen von Leuten, die früher in der Neonazi-Szene aktiv waren“, sagt er in einem Interview.

Und die Szene selbst? Ist natürlich auch noch da. Und bewies erst im vorigen Jahr bei den Aufmärschen in Chemnitz und Köthen, dass sie in der Lage ist, binnen kurzer Zeit tausende Anhänger zu mobilisieren. Was Köthen noch zeigt - wie wandlungsfähig die Rechtsextremisten sind. Im Juli dieses Jahres durchsuchten Polizeibeamte Wohnungen in Sachsen-Anhalt und drei weiteren Bundesländern. Sie waren einer Neonazi-Gruppierung namens „Wolfsbrigade“ auf der Spur, deren führende Köpfe offenbar im Land sitzen. In Köthen war die Gruppe, die auch über einen bewaffneten Arm verfügen soll, im September vorigen Jahres erstmals öffentlich in Erscheinung getreten. Die Bundesanwaltschaft sprach vom Verdacht der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Ermittelt wird gegen sechs Beschuldigte. Einer von ihnen ist als rechtsextremer Gefährder eingestuft, wie aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Martina Renner hervorgeht.

#Baseballschlägerjahre sind Jahre, die nachwirken

Auch an solchen Fällen zeigt sich: Die „Baseballschlägerjahre“ wirken nach bis heute. „So wie wir damals Angst hatten, müssen auch heute wieder Menschen Angst haben“, sagt die Linken-Abgeordnete Andrea Johlige mit Blick auf die zahlreichen rechtsextremen Angriffe der vergangenen Jahren. Insofern wundert es sie nicht, „dass das Thema jetzt wieder hochkommt“. Immerhin gebe es im Unterschied zu den 90ern jetzt mehr Menschen, die gegen Neonazis aufstehen. „Das lässt mich Hoffnung schöpfen.“

Johlige betrachtet die Debatte als notwendige Aufarbeitung fast 30 Jahre später. Und staunt manchmal über sich selbst: „Ich habe nie aufgeschrieben, was mir damals passiert ist. Erst jetzt.“ Als ein Freund ihre Tweets gelesen hatte, rief er sie an und sagte: Du hast mir noch nie davon erzählt. (mz)