Forschung zu Mobilität Mit Video: Fahren ohne Mensch im Sattel - Wie in Sachsen-Anhalt das Lastenrad der Zukunft entsteht
In Merseburg arbeiten Forscher an Mikromobilen, die künftig beim Einkauf helfen oder Zubringer für Bus und Bahn sein sollen. Was die Räder schon ganz alleine können – und was sie noch lernen müssen.

Merseburg/MZ - Wer demnächst irgendwo in Sachsen-Anhalt ein rollendes Lastenrad ohne Fahrer sieht, der darf seinen Augen ruhig trauen. Die Mobile ohne Mensch im Sattel sind im Auftrag der Forschung im Einsatz – und dabei keineswegs kopflos, sondern ferngesteuert und überwacht von Experten. Man will auf diese Weise wichtige Daten sammeln, damit die Räder in Zukunft tatsächlich nahezu selbstständig Strecken zurücklegen und somit Lücken im Mobilitätsnetz schließen können.
Im Video: In Merseburg werden Lastenräder ohne Fahrer getestet
„Wir werden hier in Merseburg unterwegs sein, in Köthen, in verschiedenen ländlichen Gebieten – und wir wollen das unter verschiedenen Witterungsbedingungen tun, auch bei Regen und Schnee“, erklärt Stephan Schmidt, während hinter ihm ein blau-weißes Fahrrad mit Laderaum und vier Rädern in gemächlichem Tempo einen Weg entlangfährt.

Verschiedene Facetten der autonomen Mikromobile in Merseburg
Seit 2022 ist Schmidt an der Hochschule Merseburg Professor für Mechatronische Systeme. Schon lange begeistert sich der 41-Jährige, der aus Aschersleben stammt, für das Thema Mobilität. An der Universität Magdeburg, wo er studiert und promoviert hatte, war er Juniorprofessor für „Autonome Fahrzeuge“.
In Merseburg will er daran anknüpfen und die Entwicklung nachhaltiger Fortbewegungsformen voranbringen. „Das, was wir hier haben, ist eine Lastenradplattform“, sagt Schmidt mit Blick auf die blau-weiße Konstruktion. „Aber ich will das gar nicht an dem Fahrrad festmachen, ich möchte mich mit autonomen Mikromobilen beschäftigen. Die dann je nach Anwendung auch noch einmal ganz anders aussehen können.“

Das Fahrrad kann selbstständig fahren.
Stephan Schmidt
Denkbar sei etwa ein kleiner Lieferroboter, der Medikamente in der Stadt ausfahre. Oder ein Elektroroller, ein E-Scooter, den der Anwender per App herbeiruft und der nach der Fahrt automatisch zu seiner Sammelstelle zurückkehrt. „Aber dafür muss die Technik noch sehr klein werden“, so Schmidt. Bislang benötigt sie nämlich noch einiges an Raum.
250 Kilogramm wiegt das Lastenrad, das sich auf den ersten Blick kaum von anderen Modellen unterscheidet. Das Gewicht ist auch der hochmodernen Technologie mit Akkus und Rechenpower geschuldet, die sich zum Großteil unter einer schwarzen Abdeckplane im Laderaum verbirgt.
Dreieinhalb Jahre wurde das Rad im Projekt „AuRa“ in Magdeburg entwickelt, teilweise arbeitete ein zehnköpfiges Team an dem Vorhaben, das mit fünf Millionen Euro vom Land Sachsen-Anhalt gefördert wurde.
Mit Erfolg: „Das Fahrrad kann selbst fahren, das heißt, es hat dann einen Antrieb unabhängig vom Fahrer, es gibt eine elektronische Lenkung, eine elektrohydraulische Bremse und auch ein Notbremssystem“, so Schmidt.
Bei der Abschlussdemonstration in Magdeburg habe man gezeigt, dass die Kette der Datenverarbeitung grundsätzlich funktioniere. „Das aber natürlich auf dem abgeschlossenen Gelände der Universität. An solchen Dingen wie der Interaktion mit Ampeln oder mit Fußgängerüberwegen arbeiten wir.“
Tests außerhalb der Hochschule Merseburg: KI soll Umgebung erkennen und interpretieren
In Merseburg geht die Forschung daher weiter. „Ein großer Baustein ist die Umgebungswahrnehmung“, betont der Professor. „Das Fahrrad muss seine Situation erkennen und interpretieren. Dafür nutzen wir KI, also künstliche Intelligenz. Und um das maschinelle Sehen zu trainieren, brauchen wir einen Datensatz.“
Genau den erstellen Schmidt und sein Team nun in dem Anschlussprojekt „OPTmicro“, für das sie die Räder auch außerhalb des Hochschulgeländes testen wollen. „Wir achten dabei natürlich auf die Sicherheit: Wir steuern das Fahrzeug mit einer Fernsteuerung, laufen 20 bis 30 Meter hinterher, und sind auf sechs km/h limitiert.“
Wie das aussieht, demonstrieren Schmidt und zwei Mitarbeiter vor einem ruhigen Nebeneingang an der HS Merseburg. Mit einer Handsteuerung, ähnlich der für ferngesteuerte Spielzeugautos oder -boote, setzen sie das Lastenrad in Bewegung. Langsam, manchmal noch etwas ruckelig, rollt es dann über Pflastersteine und Asphalt, lenkt wie von Geisterhand um Kurven, beschleunigt ein wenig und stoppt dann wieder.
Dass ein Rad ohne Fahrer auf Außenstehende durchaus ungewöhnlich wirken kann, ist Stephan Schmidt klar. Neben logistischen Faktoren und der (positiv beantworteten) Frage, ob das Konzept ein Geschäftsmodell werden kann, hat man bei der Entwicklung der AuRa-Plattform daher mit Kollegen anderer Fachbereiche über weitere Dinge nachgedacht:
„Es spielen auch Aspekte der Umweltpsychologie eine große Rolle: Wie reagieren Menschen und wie fühlen sie sich, wenn sie einem herrenlosen Fahrrad begegnen? Wie viel Abstand muss das Rad halten, muss es sich durch Klingeln oder Hupen bemerkbar machen, wie schnell darf es sein, wie kommuniziert das Rad mit dem Menschen?“
Einsatz von autonomen Lastenrad im Alltag
An solchen Punkten feilen die Forscher weiter. Das Lastenmobil ist unter anderem mit einem Laserscanner zur Abstandsmessung und Kameras bestückt. Es kann Objekte erkennen und auch, wo und in welchem Umfeld es sich selbst bewegt. Und es soll noch viel lernen, bis es marktreif ist und dann vor allem für die Nutzung vorhandener Infrastruktur wie Radwege gedacht ist.
„Am Ende könnten wir hiermit hochautomatisiertes Fahren Stufe vier verwirklichen, wie es das Straßenverkehrsgesetz erlaubt“, so Schmidt. Sprich: „So könnten Fahrzeuge von einer Leitstelle überwacht werden, an dem ein Operator sitzt, der beispielsweise bei kritischen Situationen eingreifen und diese auflösen kann.“ Damit lasse sich das System künftig auch rechtskonform gestalten, was eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung sein.
Und wie könnte letztlich die Praxis aussehen? Das Rad ist flexibel einsetzbar und kann auch noch durch Zusatzausstattung wie Kindersitze erweitert werden. „Ein Anwendungsbeispiel wäre: Man ist in der Stadt unterwegs, trägt die Einkäufe in schweren Taschen und hat vielleicht noch zwei Kinder dabei, die Straßenbahnhaltestelle ist aber noch ein gutes Stück entfernt – dann kann ich ein solches Lastenrad nutzen, um dort hinzukommen“, sagt Schmidt.
Genauso könne man Waren im ländlichen Raum transportieren oder die Mobile als Bahnhofszubringer nutzen. „Es ist eine Schnittstelle, wenn es darum geht, die erste und letzte Meile zu überbrücken.“
So soll die Praxis beim Projekt AuRa funktionieren
Im Projekt „AuRa – Autonomes Rad“ wurde ein spezielles Fahrradverleihsystem entwickelt. Dabei ging es um flexible, kostengünstige und nachhaltige Mobilität. Die Anwendung sieht Folgendes vor: Man ordert per Smartphone ein Rad zu einem Ort, im Voraus für einen bestimmten Zeitpunkt oder spontan mit maximal zehn Minuten Wartezeit.
Das Mobil fährt dann von einer zentralen Radstation selbstständig zum festgelegten Ort. Dort endet der autonome Betrieb, der Kunde steigt auf das Rad und fährt es mit elektrischer Tretkraftunterstützung selbst zum Ziel. Schließlich signalisiert er über das Rufsystem, dass die Fahrt beendet und das Rad wieder verfügbar ist. Dieses fährt dann autonom zurück zur Zentrale – oder absolviert direkt einen neuen Auftrag.