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Corona und Inflation Armut in Sachsen-Anhalt: Immer mehr Menschen rutschen ab - Politologe warnt vor Spaltung

In Sachsen-Anhalt ist jeder fünfte Einwohner armutsbedroht – darunter immer mehr Rentner. Politologe Christoph Butterwegge warnt: Krisen sind Brandbeschleuniger.

Von Lisa Garn 08.11.2022, 17:03
Die Preise für Energie und Lebensmittel sind explodiert. Das Armutsrisiko steigt auch in Sachsen-Anhalt.
Die Preise für Energie und Lebensmittel sind explodiert. Das Armutsrisiko steigt auch in Sachsen-Anhalt. Foto: Paul Zinken/dpa

Halle/MZ - - Gas, Strom, Lebensmittel: Die Preise sind explodiert und belasten viele Menschen. In Sachsen-Anhalt gilt jeder fünfte Einwohner als armutsbedroht. Mit einer Armutskonferenz am Donnerstag wollen Verbände das Thema sichtbarer machen. Einer der Referenten: Der renommierte Armutsforscher Christoph Butterwegge. Im Interview mit MZ-Reporterin Lisa Garn sagt der 71-Jährige, der 2017 Bundespräsidenten-Kandidat der Linken war: Pandemie und Inflation verstärkten soziale Verwerfungen, der Osten sei dabei stärker betroffen. Er fordert einen Kurswechsel.

Herr Butterwegge, Sie haben einen sechsjährigen Sohn. Was weiß er von Armut?

Christoph Butterwegge: Wir wohnen im Kölner Uni-Viertel. Armut gibt es hier nicht, dachten wir lange. Aber unser Sohn hatte kürzlich seinen Roller nachmittags vor der Tür stehen lassen – weg war er. Mir wurde ein Brot aus dem Fahrradkorb gestohlen. Falls das aus Geldmangel geschah, zeigt sich etwas Neues: Armut existiert nicht mehr nur in Hochhausvierteln oder abgehängten Stadtteilen.

Wenn das Thema nun die Mitte erreicht: Wurde es vorher zu lange verharmlost?

Armut wurde lange verdrängt. Jetzt beschäftigt man sich eher damit, weil nicht mehr nur Randgruppen wie Suchtkranke und Obdachlose betroffen sind, sondern auch die Mittelschicht. Unter dem Hashtag #ichbinarmutsbetroffen outen sich Menschen wie Sie und ich auf Twitter, gehen an die Öffentlichkeit und verstecken sich nicht mehr in den eigenen – manchmal verschimmelten – vier Wänden. Dass die Videos hunderttausendfach geklickt werden, ist ein Fortschritt, ebenso wie die Armutskonferenz in Magdeburg.

Ab wann ist man arm?

Es gibt absolute und relative Armut. Absolut arm sind Wohnungs- und Obdachlose. Relativ arm ist laut einer EU-Konvention, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Netto-Einkommens zur Verfügung hat. Für einen Alleinstehenden liegt diese Armutsschwelle aktuell bei 1.148 Euro im Monat, bei einem Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.410 Euro. Darunter liegen fast 14 Millionen Menschen. Betroffen sind vor allem Arbeitslose, Alleinerziehende und Ausländer, ein hohes Armutsrisiko haben aber auch Kinder, Jugendliche und Heranwachsende sowie Rentner.

Hartz-IV-Bezieher werden sozial ausgegrenzt.

Christoph Butterwegge, Politologe

Was bedeutet es, zu wenig Geld zu haben?

Armut in Magdeburg oder Halle sieht anders aus als in Mombasa. Ein Slumbewohner dort wird aber auch nie bezichtigt, arbeitsscheu oder ein Schmarotzer zu sein. In einem reichen Land ist Armut ein Stigma. Hartz-IV-Bezieher werden sozial ausgegrenzt. Einen Jugendlichen, der im Winter in Sommerkleidung auf dem Schulhof steht, lacht man aus. Darunter leidet er vermutlich mehr als unter der Kälte.

Immer mehr junge Menschen sind von Armut bedroht – in Sachsen-Anhalt jedes vierte Kind. Was bedeutet diese Entwicklung für eine Gesellschaft?

Bundesweit leben etwa 21 Prozent der Kinder unter 18 Jahren in einkommensschwachen Familien, das sind fast drei Millionen. Bei den Heranwachsenden und jungen Erwachsenen unter 25 Jahren ist die Armut noch stärker ausgeprägt. Es ist ein Teufelskreis: Aus armen Kindern werden arme Erwachsene, die wieder arme Kinder bekommen. Für eine Gesellschaft ist das dramatisch: Sie beraubt sich ihrer Zukunft. Zuletzt hat auch das Armutsrisiko bei Senioren zugenommen, die sich oft schämen oder zu stolz sind, um Sozialleistungen zu beantragen.

Zwei Jahre Corona, Energiekrise, Inflation – wo soll das noch hinführen?

Diese Faktoren sind soziale Brandbeschleuniger. Zudem breitet sich eine versteckte Armut aus, die statistisch nicht erfasst wird: Betroffen ist, wer knapp über der Armutsrisikoschwelle liegt, aber enorm unter stark steigenden Ausgaben leidet. In der unteren Mittelschicht dürfte sich die Angst vor dem sozialen Abstieg ausbreiten. Das treibt Menschen oft politisch nach Rechtsaußen. Die AfD gewinnt an Zuspruch – vor allem in Ostdeutschland. Dort sind die Menschen ohnehin mehr betroffen: Die Renten sind niedriger, die Hartz-IV-Quote ist höher.

Sie sehen schon länger Spaltungstendenzen. Wo liegen die Ursachen dafür?

Es gibt drei Hauptfaktoren: Erstens wurde der Arbeitsmarkt dereguliert. Der Kündigungsschutz wurde gelockert, durch Leiharbeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse entstand ein breiter Niedriglohnsektor. Zweitens wurde der Sozialstaat ein Stück weit demontiert: Leistungen wurden gekürzt und das Rentenniveau schrittweise gesenkt. Und drittens vertieft die Steuerpolitik die Kluft zwischen Arm und Reich. Die wachsende Ungleichheit ist längst das Hauptproblem unserer Gesellschaft. Die Folgen der sozialen Spaltung sind verheerend, denn sie gefährdet die Demokratie.

Die Regierung unterstützt Firmen stärker als sozial Benachteiligte.

Christoph Butterwegge, Armutsforscher

Entlastungspakete, Bürgergeld – hilft das nicht?

Nur wenig, denn die Regierung unterstützt Firmen stärker als sozial Benachteiligte. Im März 2020 wurde der Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit 600 Milliarden Euro geschaffen, aber erst 14 Monate später gab es 150 Euro als Einmalzahlung für Hartz-IV-Bezieher. Auch die Gaspreisbremse entlastet Industriebetriebe früher und stärker. Und beim Bürgergeld werden die Regelbedarfe nur in dem Maß erhöht, wie es die Teuerungswelle nötig macht.

Was fordern Sie?

Der Arbeitsmarkt muss wieder stärker reguliert, die Tarifbindung gefestigt und der Mindestlohn weiter erhöht werden. Wir brauchen zudem einen finanzstarken und armutsfesten Sozialstaat mit einer solidarischen Bürgerversicherung, in die neben Arbeitnehmern auch Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister einzahlen. Und: Die Steuerpolitik muss Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche stärker zur Kasse bitten.

Ist das nicht schwer durchzusetzen?

Ja, denn wer sehr reich ist, ist politisch einflussreich. Dagegen hilft nur Druck von anderer Seite.