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Anarchie auf der Halde Anarchie auf der Halde: Wie ein Autor die Goldene Aue in einem anderen Licht zeigt

Von Kai Agthe 27.07.2020, 10:12
In der Rückschau erscheint der Ort der Herkunft als ein utopischer, von der Kupfersonne erhellter Ort: Blick ins Mansfelder Land mit blühenden Rapsfeldern bei Eisleben, im Hintergrund Abraumhalden vom Kupferbergbau.
In der Rückschau erscheint der Ort der Herkunft als ein utopischer, von der Kupfersonne erhellter Ort: Blick ins Mansfelder Land mit blühenden Rapsfeldern bei Eisleben, im Hintergrund Abraumhalden vom Kupferbergbau. picture-alliance/ ZB

Halle (Saale) - Reinhard Stöckel bettet in „Kupfersonne“ das Schicksal von Edgar Trybek ein in die Geschichte eines fiktiven Dorfes im Mansfelder Revier des 20. Jahrhunderts.

Das Winterlicht über dem Mansfelder Revier und der Goldenen Aue scheint so kupferfarben wie das im scheinbar ewigen Sommer Spaniens. So erlebt es zumindest Hartwig Laub. Der Geologe stammt aus Mitteldeutschland, ist im Frühjahr 2011 aber auf der iberischen Halbinsel mit Freunden unterwegs.

Reinhard Stöckel schreibt Roman über Mansfelder Revier

Dort nimmt Reinhard Stöckels Geschichte zwar nicht ihren Anfang, hier setzt aber die Handlung des Romans „Kupfersonne“ ein, die den Leser alsbald zurück in das 20. Jahrhundert und den fiktiven Ort Enzthal führt.

Auf Pilgerreise mit Armin und Märte ist die Stimmung zwischen
den Männern sichtlich angespannt, da beide die Frau begehren, mit der sie um der mentalen Reinigung willen zu Fuß unterwegs sind. Bis zu dem Zeitpunkt, da Hartwig in einer spanischen Zeitung zufällig ein historisches Foto entdeckt, auf dem er
den „Freund aus meiner frühen Jugend“ und Nenn-Onkel Edgar Trybek zu erkennen glaubt, der 1972 spurlos aus Enzthal verschwand.

Es hieß damals, er sei, wie so viele vor ihm, in den Westen gegangen. Bild und Beitrag in der Zeitung belegen nun, dass er 1974 in Spanien, das damals Diktator Franco noch fest im Würgegriff hielt, als politischer Terrorist hingerichtet wurde.
Statt durch das Land reist Hartwig zurück in Edgars, seine und seines Dorfes Geschichte. Ein glücklicher Zufall führt ihn zu dem Obstbauern Antonio, der ihm auch als Übersetzer zur Seite steht, als er beginnt, bei Behörden und Personen das Schicksal des Edgar Trybek zu recherchieren, der Mitglied der
anarchistischen Iberischen Befreiungsbewegung gewesen sein soll
und deshalb mit dem Tod bestraft wurde.

Tatsächlich war Edgar einst begeistert von dem Anarchisten
Max Hoelz (1889-1933). Edgar wusste, „wer Max Hoelz durch den Hut geschossen hat“. So lautete damals eine stehende Wendung, an die sich Hartwig immer wieder erinnert.

In Spanien erfährt dieser von Edgars Henker, wie der Freund getötet wurde, von dem bei der Hinrichtung anwesenden Priester, dass Edgars letztes Wort „Marie“ lautete und von einem Friedhofsgärtner, dass Trybeks Grab in der Ecke des Gottesackers,
wo die Verbrecher und Selbstmörder liegen, leer sei.

Parallelen zu Uwe Johnsons Tetralogie „Jahrestage“

Allein diese Geschichte hätte das Zeug zu einem großartigen Roman. Bei Reinhard Stöckel, der 1956 in Allstedt geboren wurde und heute in der Lausitz lebt, ist es nur das erste von drei Kapiteln in seinem exakt 500 Druckseiten umfassenden
Buch, in dem er mit einem episch langen Atem - der den Leser Parallelen zu Uwe Johnsons Tetralogie „Jahrestage“ ziehen lässt - die Lebensgeschichte des Edgar Trybek einbettet in die eines mitteldeutschen Dorfes und seiner Bewohner.

„Eckstein Nr. 5“ heißt dieses zweite, 300 Seiten füllende Kapitel,
betitelt nach Trybeks Adresse in Enzthal, wo er als Außenseiter und mit dem Verdacht der Menschen um ihn herum lebte, wegen seiner ständigen Notizen ein Spitzel des DDR-Geheimdienstes
zu sein. Doch Trybek ist Bergmann und verliebt in die
Tante des kleinen Hartwig, jener Marie mithin, die er noch einmal anruft, als er im Gefängnis im spanischen Tarragano die Todesstrafe erhält.

Seine Aufzeichnungen dienen freilich der Selbstvergewisserung:
„Jakubs Notizen“ sind sie betitelt, die in Spanien und über viele Umwege in Hartwigs Hände gelangen. Jakub, das ist Edgars richtiger Name, dem ihn seine Mutter Valeska Trybek gab. Die Polin war im Zweiten Weltkrieg eine von zahllosen
Zwangsarbeiterinnen in Enzthal und wurde in dieser Zeit schwanger.

Von wem, ist höchst ungewiss. Ist vielleicht der Bergmann Torbern der Vater, der den kleinen Jakub im Frühjahr 1945 vor dem sicheren Tod in einem aufgegebenen NS-Kinderheim rettete und ihn, da er es nicht besser wusste, Edgar nannte? Oder
doch ein anderer Enzthaler Mann, deren Mehrheit die Polin als Untermensch verachtete und doch von ihrer Erscheinung hingerissen war?

Gelebte Anarchie in fiktivem Dörfchen

Mit einer in dieser Form heute selten zu findenden Genauigkeit
und einem bemerkenswerten Detailreichtum beschreibt Reinhard
Stöckel das Leben in Enzthal in den 70er Jahren. Ein rustikales Panorama, das sich gar ins Utopische weitet, da der Ort nach einem Erdschlag von einem Nebel umhüllt wird, der ihn von der Welt abschneidet und dafür sorgt, dass der Sozialismus
zerbröselt: Die Bauern holen sich Vieh und Land von der LPG zurück, Propagandaplakate fallen und die
erste Handlung der Enzthaler gilt dem Versuch, mit den ihnen gegebenen Möglichkeiten Bier zu brauen.

Gelebte Anarchie auch dann, wenn es sich dabei wohl nur um einen Fiebertraum von Hartwig handelt. Es ist große Literatur, mit der Reinhard Stöckel die Landschaft zwischen Mansfeld und Sangerhausen, Kyffhäuser und Unstrut beschenkt.

Verlag Müry Salzmann

500 Seiten,

29 Euro

Dass er mit seinen Figuren von den Abraumhalden des früheren
Kupferbergbaus bis nach Spanien blicken kann, erhöht den Reiz für den Roman über ein Jahrhundert, der auch die poetische Kraft besitzt, ein Jahrhundertroman zu werden. (mz)