Als Seiteneinsteigerin vor die Klasse Als Seiteneinsteigerin vor die Klasse: Die Retterin von außen

Halle (Saale) - Draußen lockt Sonnenschein. Im engen Schulzimmer aber winkt der Hauptschulabschluss. Elf junge Erwachsene aus Syrien, Afghanistan, Guinea und Deutschland sitzen um vier zusammengeschobene Tische.
In der kommenden Woche steht für sie das Kolloquium an, das abschließende Prüfungsgespräch. Es ist ihre große Chance auf Ausbildung, Job, Integration. Doch da ist noch ein kleines Problem. „Sharam, ich habe von Dir noch keinen Antrag zum Kolloquium“, sagt mahnend Daniela Schaaf, die Lehrerin. Der junge Mann senkt schuldbewusst den Blick. „Ohne Antrag keine Zulassung“, erklärt die Lehrerin. „So ist das in Deutschland!“
Offiziell ist das gerade eine Deutschstunde. Die hört aber bei Rechtschreibung und Grammatik nicht auf. Für Sharam und die anderen Schüler des Berufsvorbereitungsjahrs ist Schaaf auch eine Lotsin durch die Gebräuche dieses Landes.
Dabei ist die 36-Jährige gar keine studierte Lehrerin. In die Berufsbildende Schule III „Johann Christoph von Dreyhaupt“ in Halle kam sie als Seiteneinsteigerin. Menschen wie sie sind es, die in Sachsen-Anhalts Schulen die Lücken stopfen und die schlimmsten Auswirkungen des Lehrermangels verhindern sollen.
Gülgün, ein Mädchen aus Syrien, wird gleich einen Vortrag über Rosen halten. Die Klasse soll ihn bewerten – und die Lehrerin spricht durch, worauf die Mitschüler achten sollen. Gibt es ausreichend Sprechpausen? Ist der Vortrag verständlich? Ist er logisch? Nicht jeder weiß, was die Wörter bedeuten. „Eins plus eins ist zwei“, versucht es die Lehrerin, „das ist …?“ – „Logisch“, ruft ein Schüler.
Niemand hat Schaaf erklärt, wie man Heranwachsende zum Mitmachen motiviert. Wie man die Aufmerksamkeit über eine lange Schulstunde hinweg hält, wie man maulige oder freche Antworten pariert - sie musste es sich selbst beibringen.
Zu Beginn des Unterrichts etwa, wenn viele Schüler zurückgelehnt auf ihren Handys daddeln, stellt sie mit wenigen Ansagen Arbeitsatmosphäre her. „Rucksäcke vom Tisch! Und was brauchen wir für den Unterricht?“ Brav kramen die Jugendlichen nach ihren Stiften.
Lehrer als Seiteneinsteiger in Sachsen-Anhalt: Aus dem Japanlogie-Studium in die Schule
Schaaf hat Japanologie studiert. Sie saß bereits an ihrer Dissertation. Nach der Geburt ihrer Tochter aber suchte sie nach einem langfristig sicheren Job – Wissenschaftler hangeln sich üblicherweise von Befristung zu Befristung.
Weil sie schon einmal an der Uni Deutsch für Ausländer unterrichtet hatte, bewarb sie sich beim Landesschulamt Sachsen-Anhalt und bekam eine Stelle in der BBS, seit Januar 2017 unbefristet. Ein Lehrerjob ohne Lehramtsstudium und Referendariat? Früher war das kaum denkbar. Heute kann es sich das Landesschulamt nicht mehr leisten, Spätberufene zurückzuweisen.
Ihrer aufgegebenen Doktorarbeit trauert Schaaf nicht hinterher. „Man sitzt da sehr viel Zeit allein am Schreibtisch. Ich habe gemerkt, dass ich den Kontakt mit Menschen brauche“, sagt die Neu-Lehrerin. „Hier bekomme ich jeden Tag direkte Rückmeldung.“
Schulleiterin Dagmar Siewert ist froh über die Verstärkung von außerhalb. Doch sie macht sich auch Sorgen. Die neuen Kollegen würden ohne viel Vorbereitung ins kalte Wasser geworfen, kritisiert sie das Land. „Ich habe deshalb immer ein schlechtes Gewissen. Es gibt so viele Dinge, die man im Referendariat lernt und die die Seiteneinsteiger alle selbst ausprobieren müssen.“ Siewert denkt an pädagogische Fähigkeiten ebenso wie an Schulbürokratie.
Wie plant man eine Unterrichtsstunde? Wie führt man ein Klassenbuch? Wie benotet man fair? Allein für die Zensurenvergabe gibt es viele verbindliche Regeln. Lehrer müssen vorher festlegen, was sie vom Schüler erwarten und wie viele Punkte es dafür jeweils gibt. Im Ernstfall muss eine Note auch Bestand haben, wenn sich ein Schüler juristisch wehrt - auch wenn das in Schulen selten passiert.
16 Schüler lernen in der Berufsvorbereitungsklasse für den Hauptschulabschluss. Bis auf eine junge deutsche Mutter sind es alles Flüchtlinge. Von den muslimischen Mädchen tragen einige Kopftuch. Manchmal, sagt die Direktorin, gebe es Probleme mit jungen Männern, die sich einer Frau nicht unterordnen wollten. „Die meisten laufen aber gut mit.“
Die Sprachkenntnisse sind sehr unterschiedlich. Dass ein Lehrer in Sachsen-Anhalt Schülern rund um die Volljährigkeit erklären muss, was „logisch“ bedeutet - auch das war früher unvorstellbar.
Als Sprachlehrer für Flüchtlinge kam erstmals ein großer Schwung Seiteneinsteiger in die Schulen. Die Hälfte davon erhielt später unbefristete Stellen, die anderen ließ das Land ziehen. Mittlerweile jedoch ist der Lehrermangel so groß, dass das Land auf Experten aus anderen Berufen nicht mehr verzichten kann.
Schulleiterin Siewert fordert vom Bildungsministerium, mehr für die Seiteneinsteiger zu tun: „Sie müssen die Chance haben, vollwertige Lehrer zu werden.“ Nötig sei ein berufsbegleitendes Referendariat. Dabei könnten die Handwerkszeug lernen - und würden dann auch bei der Bezahlung gleichgestellt. Andernfalls, fürchtet Siewert, könnten die Seiteneinsteiger schnell wieder abspringen.
Die Direktorin weiß, dass eine Schulanstellung Vorteile hat. Lehrer können einen Großteil ihrer Arbeit zu Hause erledigen und frei einteilen, auch ist ihr Urlaub während der Ferienzeit flexibel. „Dagegen stehen aber die Gehälter in der Wirtschaft. Manche könnten dort das Dreifache verdienen“, sagt die Direktorin.
Wie viel verdienen Seiteneinsteiger als Lehrer in Sachsen-Anhalt
Wieviel die Seiteneinsteiger verdienen, ist stark abhängig von Ausbildung und Qualifikation. Die Betroffenen werden in der Regel zwischen den Entgeltgruppen 9 bis 13 eingruppiert. Die Spanne des Bruttomonatsverdienstes reicht da von gut 2.700 Euro bis mehr als 5.100 Euro in der höchsten Entwicklungsstufe. In Sachsen-Anhalt ist die Zahl der Seiteneinsteiger mit 140 noch vergleichsweise gering. Das benachbarte Brandenburg hat bereits 1.600 Quereinsteiger. (mz)
