100 Jahre Leuna 100 Jahre Leuna: Angela Merkel und die Moleküle

Leuna - Angela Merkel (CDU) wirkt abgeschlagen. Draußen, in Sichtweite des Kulturhauses in Leuna und abgeschirmt von der Polizei, haben sich 20 Demonstranten eingefunden. Sie grölen „Merkel muss weg“ - hinter den Mauern des schmucken Gebäudes ist es nicht zu hören. Hier gibt es für die Kanzlerin eine Verschnaufpause von der Flüchtlingskrise. Hier feiert sich die Wirtschaft. Leuna ist eine Erfolgsgeschichte, auch eine politische. Alt-Kanzler Helmut Kohl hatte am 1. Dezember 1992 just im Leunaer Kulturhaus versprochen, die chemische Industrie in Mitteldeutschland zu erhalten. „Ich gebe zu, dass ich mir damals nicht sicher war, ob es die blühenden Landschaften wirklich geben würde, von denen er sprach“, sagt Merkel. Doch sie habe es selbst tapfer immer wieder angesprochen. Der Saal mit 500 geladenen Gästen lacht. Merkel taut auf.
15 Minuten hat sie laut Protokoll Zeit für ihre Festrede zum 100. Geburtstag des Standorts. Nur knapp eine Stunde bleibt ihr in Leuna, dann soll der Kanzler-Hubschrauber wieder abheben - der EU-Gipfel muss vorbereitet werden. Die Physikern sieht in der Chemieregion mit Leuna, Schkopau und Bitterfeld einen Taktgeber für die Zukunft. Vor allem Leuna lobt sie als ein herausragendes Beispiel für eine effiziente Rohstoffnutzung und den umweltbewussten Umgang mit den Ressourcen. Und es sei die Aufgabe der Politik, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industrie - zu der die Chemie nun einmal zählt - auch weiterhin zu garantieren. Merkel sieht noch Nachholbedarf im Image der Chemie in großen Teilen der Bevölkerung. Für viele Menschen seien die Prozesse abstrakt, „dabei ist die Chemie die Grundlage des Lebens“. Von Medikamenten über Kunststoffprodukte bis hin zum Dünger für die Landwirtschaft: „Ohne Chemie geht nichts.“
1990, nach dem Mauerfall, war die Ost-Chemie indes ein Pflegefall. „Es gab Zweifel und Fragen, ob wir hier den Herausforderungen überhaupt gewachsen sind“, sagt Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Industrie. „Und im Westen herrschte viel kühles Kalkül. Lohnt es sich überhaupt, Geld in den Prozess zu stecken, hieß es seinerzeit. Oder kann das bisschen Chemie nicht vom Westen aus übernommen werden?“ Vassiliadis spricht von einer Jahrhundertaufgabe, die gesamtgesellschaftlich gemeistert worden ist. Und zu deren Gelingen die Gewerkschaften ihren Beitrag geleistet hätten. Arbeitsplätze in der Chemie sind begehrt, weil die Unternehmen gutes Geld zahlen. 9 000 Menschen sind heute am Standort beschäftigt.
Erfolgsgeschichte hin oder her, ohne den Ersten Weltkrieg hätte es den Spatenstich für das Ammoniakwerk am 25. Mai 1916 wohl nicht gegeben. „Die Kriegswirtschaft hatte ihre Erfordernisse“, sagt Christof Günther, Geschäftsführer der Standort-Entwicklungsgesellschaft Infra Leuna. Und es waren Belgien und Frankreich, die damals die ersten Ziele gewesen seien. „Umso bemerkenswerter ist es, dass Unternehmen aus Belgien und Frankreich nach 1990 zu den ersten und wichtigsten Investoren zählten“, so Günther. Domo Caproleuna, Tochter des belgischen Mutterkonzerns, ist eines der wichtigsten Unternehmen in Leuna. Und Hauptsitz von Total, Inhaber und Betreiber der modernsten Raffinerie in Europa, ist Paris. Heute haben sich Firmen aus zehn Nationen im Chemiestandort niedergelassen. Sie arbeiten in einem Verbund von Stoffströmen und Energien eng zusammen. Und das ist die eigentliche wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Kein Wunder, dass Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) in Bezug auf Leuna von einem Glücksfall für das Land spricht.
Sechs Milliarden Euro sind seit 1990 in die Umstrukturierung und Modernisierung der ehemaligen Leuna-Werke geflossen, ein Großteil des Geldes in Umweltprojekte. Allerdings sind nicht alle Träume in Erfüllung gegangen. „In den 90er Jahren gab es die Hoffnung, dass Leuna noch mehr wachsen könnte. Und tatsächlich ist noch Platz im Chemiepark“, sagt Andreas Hiltermann, Günthers Vorgänger als Chef der Infra Leuna. Die Wirtschaft am Standort sei aber stabil und komme ohne Subventionen aus. „Und das ist wichtig.“ Auch für die Zukunft. (mz)