Organisiertes Chaos Organisiertes Chaos: Neues Amazon-Logistikcenter in Magdeburg nimmt Arbeit auf

Magdeburg - Teppiche, Kleiderbügel, Kochtöpfe, eine kleine Klimaanlage - alles in einem Regal. Im neuen Amazon-Lager vor den Toren Magdeburgs geht es auf den ersten Blick recht chaotisch zu. „Das ist gewollt, wir haben hier das organisierte Chaos“, sagt Patrick Geiger. Der Amazon-Manager ist für den Aufbau des neuesten Standortes mit verantwortlich. Dieser ist auch für Amazon-Verhältnisse XXL.
500 Meter lang und 200 Meter breit, 180.000 Quadratmeter Nutzfläche besitzt das Lager: Damit ist es eines der größten des US-Onlinehändlers weltweit. Nun soll es ins Laufen gebracht werden. 600 Mitarbeiter hat Amazon in den vergangenen Wochen bereits eingestellt, mehr als 1.000 Stellen sollen bis Jahresende besetzt werden.
Eine der neuen Mitarbeiterinnen heißt Birgit Jutrowska. Die 50-Jährige hat am 1. Juli ihre Arbeit aufgenommen, zwei Monate später ist sie bereits Teamleiterin und für die Einarbeitung von 30 Arbeitskräften verantwortlich. „Ich bin selbst überrascht, dass ich jetzt schon diese Verantwortung trage“, sagt die gelernte Facharbeiterin für Polstertechnik. Nach der Wende arbeitete sie 15 Jahre lang in einem Magdeburger Industriebetrieb. Doch wegen schlechter Auftragslage wurde ihr dort gekündigt. „Als ich erfuhr, dass sich Amazon ansiedelt, habe ich regelrecht darauf gewartet, dass die Bewerbungsphase begann“, sagt sie. Nun lehrt sie Mitarbeiter, wie Artikel ins Lager einsortiert und versandfertig gemacht werden.
Amazon-Lager in Magdeburg nimmt Arbeit auf
Die Einarbeitungszeit ist kurz. „In der Regel dauert sie etwa eine Woche“, sagt Geiger, der den Warenausgang verantwortet. „Wer bei uns anfängt, braucht keine Vorkenntnisse.“ Am ersten Tag gebe es eine Sicherheitseinweisung. Doch dann beginne auch gleich die Unterweisung in die Technik. Ab wann arbeiten die neuen Mitarbeiter im Regelbetrieb mit? „Ab dem ersten Tag“, sagt Geiger.
Einzusortieren gibt es im neuen Lager sehr viel. „Wir haben Platz für acht Millionen Artikel, eine Million haben wir bereits gelagert“, erklärt Geiger. Am Wareneingang stapeln sich derzeit tausende Pakete von Herstellern aus der ganzen Welt. Das Lager in Magdeburg ist nicht nur groß, sondern soll auch sperrige und große Produkte an Kunden in Europa ausliefern. Anders als etwa der Standort Leipzig dient es nicht dazu, vorrangig die Kunden in der Region zu versorgen.
Christian Stahlberg arbeitet seit Anfang August im Versandzentrum. Mit einem Handscanner erfasst er Kochpfannen und scannt anschließend die Regalnummer. Ab dem Zeitpunkt weiß das Lagersystem, wo sich der Artikel befindet, und er ist im Onlineshop erhältlich. „Die Methode ist sehr platzsparend, da so keine Fächer für bestimmte Produkte frei gehalten werden müssen“, erläutert Geiger. Dass der Wischmopp neben dem Müsli und der Gießkanne liegt, hat nach seinen Worten noch einen anderen Vorteil: „Bei Auslieferungen kommt es so selten zu Verwechslungen.“ Alle Amazon-Standorte weltweit würden nach der chaotischen Lagerhaltung arbeiten.
Gewerkschaft kämpft für Tariflohn bei Amazon
Nach Angaben von Amazon-Sprecher Stephan Eichenseher kommen fast alle neuen Mitarbeiter in Magdeburg aus der Region. „Wir haben bisher keine Probleme, ausreichend Personal zu finden“, sagt Eichenseher. Beim Rundgang wird auch sichtbar, dass viele Migranten einen Job gefunden haben. Es wird arabisch, spanisch und polnisch gesprochen.
Amazon ist der weltgrößte Onlinehändler. Der US-Konzern expandiert auch in Deutschland schnell. In den vergangenen Monaten stieg die Zahl der Logistikzentren von zwölf auf 15, weitere werden schon gebaut oder sind in Planung.
Der Onlinehändler profitierte von der Corona-Pandemie. Während stationäre Händler ihre Geschäfte schließen mussten, durfte Amazon weiter liefern. Annähernd 37 Prozent des Onlinehandels gehen laut „E-Commerce Germany Report“ inzwischen über Amazon. Andere Schätzungen gehen von bis zu der Hälfte aus. Vor allem bei Büchern, Elektroartikeln sowie Spiel- und Freizeitwaren ist der Konzern so stark geworden, dass etliche unabhängige Onlinehändler über den Marktplatz verkaufen müssen, um ihre Kunden noch zu erreichen, heißt es. Der erst 1994 gegründete US-Konzern kommt hierzulande auf einen Umsatz von etwa 11,5 Milliarden Euro.
Kritik an den Arbeitsbedingungen äußert jedoch die Gewerkschaft Verdi. Seit Jahren kämpft die Gewerkschaft für einen Tariflohn bei Amazon. „Amazon macht immer nur das, wozu Amazon gezwungen wird“, sagt Gewerkschaftssekretär Thomas Schneider. Seit 2013 organisiert er Streiks am Standort Leipzig - doch ohne durchschlagenden Erfolg. Von den 1.500 Beschäftigten beteiligen sich dort regelmäßig etwa 400 Mitarbeiter an Streiks.
Der US-Konzern hat durch Lohnerhöhungen dem Protest den Wind aus den Segeln genommen. Eichenseher sagt: „In Deutschland beginnen die Mitarbeiter mit einem Lohn von mindestens 11,10 Euro brutto pro Stunde.“ Dieser Lohn liege nah am Tarifgehalt. Inklusive Zuschläge kommt ein Mitarbeiter laut Amazon nach 24 Monaten auf ein Bruttogehalt von 2.500 Euro. Zum Vergleich: Mitte der 2000er Jahre lag der Einstiegslohn bei 7,76 Euro pro Stunde brutto.
Kontrovers diskutiert wird auch der Arbeitsdruck bei Amazon. Gewerkschafter Schneider sagt: „Ein Computer-Algorithmus überwacht die Leistung jedes einzelnen Mitarbeiters.“ Wer die Leistung nicht bringe, werde zunächst zum Gespräch eingeladen und möglicherweise aus dem Unternehmen gedrängt. Bei Amazon-Manager Geiger hört sich das anders an: „Wir ermitteln immer die durchschnittliche Leistung eines Teams. Liegt ein Mitarbeiter deutlich unter dieser, dann fragen wir natürlich nach, woran das liegt.“ Laut Geiger seien beispielsweise bei Migranten häufig Verständigungsprobleme die Ursache. „Meist finden wir eine Lösung“, sagt der Manager.
Magdeburg beliefert insgesamt 180 andere Amazon-Standorte
Fakt ist, dass der Leistungsanspruch und damit auch der Leistungsdruck bei Amazon hoch sind. Das Unternehmen verfolgt das Ziel, dass jeder Kunde das bestellte Produkt am Folgetag auch erhält. Das neue Logistikcenter bei Magdeburg beliefert insgesamt 180 andere Amazon-Standorte weltweit. Am Flughafen Leipzig/Halle baut der US-Konzern aktuell einen eigenen Umschlagplatz für Luftfracht auf. „Für uns hat der Flughafen eine zentrale Bedeutung“, sagt Geiger. Vom Airport aus sollen andere europäische Standorte beliefert werden.
Auch die Corona-Pandemie hat den Zeitplan laut Geiger bisher nicht durchkreuzt. Am Eingang prüft eine Wärmebildkamera die Temperatur jedes einzelnen Mitarbeiters. Ist diese höher als 38 Grad, schlägt das System Alarm. In der Kantine trennen Plexiglasscheiben jeden einzelnen Platz voneinander ab, und im Lager wechseln sich Amazon-Beschäftigte damit ab zu überprüfen, ob die Abstandsregelungen untereinander eingehalten werden.
„Diese Vorsorgemaßnahmen haben schon an anderen deutschen Standorten erfolgreich gewirkt“, sagt Sprecher Eichenseher. Bis zum Weihnachtsgeschäft soll das neue Lager voll arbeiten. Dann sollen täglich 100.000 Pakete versendet werden. Die neue Teamleiterin Jutrowska sieht die Aufgabe sportlich: „Als Amazon-Kundin habe ich mich über schnelle Lieferungen gefreut. Als Mitarbeiterin werde ich das jetzt nicht anders sehen.“ (mz)
