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Nachterstedt Nachterstedt: Tage des Zorns

Von ALEXANDER SCHIERHOLZ 08.07.2011, 20:12

NACHTERSTEDT/MZ. - Sie kommen im Dunkel der Nacht. Vielleicht wollen sie den eigenen Werkzeugkasten auffüllen, vielleicht bilden sie sich ein, das schnelle Geld machen zu können: Vier Einbrecher aus Quedlinburg und Ditfurt (Harzkreis) dringen an einem späten Samstagabend Ende Juni in die unbewohnten Häuser im Erdrutschgebiet von Nachterstedt ein. Ihre Beute: Stichsäge, Schlagbohrmaschine, Schraubendreher, Heckenschere. Weit kommen sie nicht: Das gesamte Gelände wird von Kameras überwacht. Wachdienst und Polizei nehmen die Männer in Empfang.

Angelika und Hans-Joachim Kral waren damals nicht betroffen. Aber sie sind heute noch wütend, wenn sie an die Nachricht von dem versuchten Diebstahl denken, die sie vor wenigen Wochen aufschreckte. "Wenn ich mir vorstelle, da wird einer nicht erwischt, will die Sachen verticken und dann sehe ich bei Ebay Bilder von meinem Werkzeug - da schwillt mir der Kamm", grollt der 68-Jährige.

Das Ehepaar hat selber in der Siedlung am Condordia-See gewohnt. Bis zum 18. Juli 2009. Jener Samstag vor zwei Jahren, an dem in den frühen Morgenstunden die Erde nachgab am Rand des Ortes, zwei Häuser und drei Menschen unter sich begrub. Krals mussten wie alle anderen Bewohner Hals über Kopf ihr Haus verlassen. Das Gebiet wurde für unbewohnbar erklärt. Krals wohnen nun in einer Doppelhaushälfte im Ort, bezahlt mit der Entschädigung des Bergbausanierers LMBV.

Was sie zurückgelassen haben, ist ein ganzes Leben.

Da ist nicht nur das alte Werkzeug von Hans-Joachim Kral. Da gibt es noch ein paar andere Dinge, an denen sie hängen. Unvorstellbar, dass Einbrecher dazu Zugang haben könnten, sie aber nicht! "Mein Fotoalbum", sagt er. "Ein Teeservice und die Sektgläser meines Vaters", sagt sie. "Und mein letztes Schulfedermäppchen." Es mag nur noch ein paar Euro wert sein, aber für die einstige Grundschullehrerin ist es von unschätzbarem Wert - es hat sie über Jahre begleitet. Freilich: Streng genommen gehört Krals das alte Haus - und alles, was darin ist - längst nicht mehr - die LMBV hat es ihnen mit der Entschädigung abgekauft. Und wenn schon, sagt er trotzig, "dann kaufen wir es eben zurück".

Vielleicht ist das wirklich bald möglich. Vielleicht können die einstigen Bewohner der gesperrten Siedlung bald in Empfang nehmen, was ihnen lieb und teuer ist. Mitte Juni, Bürgerversammlung in Nachterstedt. Die LMBV und Wissenschaftler informieren über die langwierige Suche nach den Ursachen des Erdrutsches, die noch immer andauert. LMBV-Chef Mahmut Kuyumcu steht den Besuchern Rede und Antwort, auch der von dem Bergbausanierer beauftragte Gutachter, Rolf Katzenbach von der Uni Darmstadt, ist da. Irgendwann stellt Angelika Kral die Frage, die ihr schon so lange auf den Nägeln brennt: Werden wir noch einmal in unsere alten Häuser dürfen, persönliche Dinge herausholen, endgültig Abschied nehmen?

Es ist eine Bitte. Kuyumcu sagt zu, sie zu prüfen. Doch bis zum Herbst werden die Anwohner sich gedulden müssen, ehe eine Entscheidung fällt. "Wir müssen abwarten, bis wir mit den Bohrungen in den Rutschungskessel vorgedrungen sind", sagt eine LMBV-Sprecherin der MZ. Erst dann werde entschieden werden können, ob ein Zugang gefahrlos möglich sei. "Sicherheit ist das A und O." Hunderte Bohrungen haben Experten seit dem Unglück vor zwei Jahren bereits in den Untergrund getrieben, um dessen Beschaffenheit zu erkunden. Davon erhoffen sie sich Aufschluss über die Ursachen des Erdrutsches.

Es wäre die dritte Chance für die Bewohner, ihre Häuser noch einmal zu betreten. Direkt nach der Katastrophe durften die Besitzer selber kurz in ihre Wohnungen, drei Monate später holten Experten der Bergwacht, angeseilt an schweren Containern, anhand von Listen weitere Gegenstände und Papiere. "Ich bin mir fast sicher, dass sie uns jetzt nicht nochmal reinlassen", sagt Hans-Joachim Kral. Sie wünschen es sich so sehr, aber sie glauben nicht mehr recht daran. Betonen denn die Gutachter nicht immer wieder, es sei keineswegs sicher auf dem Gelände, der Boden könne jederzeit wieder nachgeben? Einerseits. Andererseits halten sich dort ja täglich Menschen auf, die Bohrtrupps, die Leute vom Wachdienst. Es herrscht Betrieb im Sperrgebiet, Autos von Spezialfirmen fahren ein und aus.

Manchmal, "wenn uns nicht zu sentimental zumute ist", sagt Angelika Kral, manchmal also fahren sie mit den Rädern vor zur Absperrung und werfen einen Blick auf die Häuser in der geräumten Siedlung. 300 Meter sind es vom Zaun bis dorthin. Neulich kamen der 63-Jährigen Nordic Walker entgegen. "Da habe ich gedacht, jetzt gehe ich schnell rüber und hole mir meine Stöcke. Die stehen ja noch auf der Terrasse."

Es sind solche Kleinigkeiten wie die Nordic-Walking-Stöcke, die das Unglück immer präsent sein lassen. Der Eimer voller Kirschen, die Freunde ihnen schenken, ruft Erinnerungen wach an die zwei Kirschbäume im alten Garten. Die Himbeersträucher, die sie gerade gepflanzt haben, lässt sie an die Himbeeren am alten Haus denken. Krals sitzen auf ihrer Veranda, ein holzgetäfelter Unterstand, ein Tisch, Gartenstühle, eine Hollywood-Schaukel. "Es ist Zufall", sagt er, "aber genau so einen Unterstand hatten wir auch zu Hause."

Nachterstedt: Das Erdrutschgebiet nach dem Unglück. (Foto: Frank Gehrmann)
Nachterstedt: Das Erdrutschgebiet nach dem Unglück. (Foto: Frank Gehrmann)
CARDO
Ein Denkmal für die Opfer des Erdrutsches in Nachterstedt (Salzlandkreis) wurde eingeweiht. (FOTO: DDP)
Ein Denkmal für die Opfer des Erdrutsches in Nachterstedt (Salzlandkreis) wurde eingeweiht. (FOTO: DDP)
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