MZ-Serie Lebensträume Teil 9 MZ-Serie Lebensträume Teil 9: Leben im Lehmhaus

Großkühnau - Ein bisschen erschrocken war Jörg Singer schon, als die Jury Ende August 2008 wirklich vor seiner Tür stand. „Das waren ja gleich über zehn Leute, die sich mein Haus anschauen wollten“, erzählt der 51-Jährige. Zu den Besuchern gehörten Architekten, Denkmalpfleger und auch Handwerker. „Die passten alle kaum rein“, sagt Singer.
Die Gäste inspizierten jeden Winkel seines Eigenheims – von den Ziegeln auf dem Dach bis hin zu den Schrauben an den Fensterbeschlägen. Jedes Detail war wichtig. Immerhin hatten die Besucher die Aufgabe, den „Bundespreis für Handwerk in der Denkmalpflege“ zu vergeben. Der wird jedes Jahr von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz in zwei Bundesländern ausgeschrieben - 2008 in Hamburg und Sachsen-Anhalt. Die Auszeichnung gilt als eine der wichtigsten auf ihrem Gebiet.
Befreundeter Architekt überredet Singer
„Auf die Idee, mich da zu bewerben, wäre ich alleine nie gekommen“, sagt Singer. Es sei ein befreundeter Architekt gewesen, der ihn überredete. Doch der Zahntechniker zögerte: „Da machen Schlösser und riesige Gutshäuser mit.“ Dass sein bescheidenes Heim eine Chance haben könnte, daran glaubte er nicht. Und tatsächlich fehlt es seinem Domizil auf den ersten Blick an der Strahlkraft eines Schlosses oder Gutshauses. Es liegt in Großkühnau, einem kleinen Ort westlich von Dessau-Roßlau, der jedoch zur Bauhausstadt gehört.
Betritt man das Grundstück von Jörg Singer, kommt man in eine Art Drei-Seiten-Bauernhof im Kleinformat. Rechts das Wohnhaus, links ein Schuppen und geradeaus eine Scheune, die früher auch Stall war. „Im Vergleich zu normalen Bauern-Wirtschaften hat das hier alles Puppenhausgröße“, sagt Singer. Der 51-Jährige steht, barfüßig und in blauem Schlabberpullover, im zehn Meter langen und ebenso breiten Innenhof seines Anwesens. „Früher war das ein sogenannter Kossaten-Hof“, erklärt Singer. Hier wohnten Kleinbauern, die nur sehr wenig Land hatten. Ihre Existenz sei sehr karg und ärmlich gewesen. „Das spiegelte sich auch in der Größe des Hauses wieder.“
Gehöft wurde 1865 erbaut
Das Gehöft, in dem Singer mit seiner Frau und einer von drei Töchtern lebt, wurde um 1865 gebaut. Das Besondere ist: Seine Mauern bestehen komplett aus Lehm. „Das war damals allerdings vollkommen normal“, sagt Singer. Den Baustoff konnten die armen Bewohner aus den Gruben in der Nähe holen. Gekostet hat er nichts. Bis in die 1940er Jahre lebten Bauer auf Singers Anwesen. Danach wechselte die Nutzung mehrmals. Das Wohnhaus sei zeitweise auch Schafstall gewesen. Bevor es Singer 2003 kaufte, stand der Drei-Seiten-Hof 17 Jahre leer.
„Und das hat man ihm auch angesehen“, erzählt Singer. Er ist hinter das Haus gegangen. Dort hat der 51-Jährige einen Garten angelegt. An der Grundstücksmauer wuchert ein uralter Wacholder. Singer zeigt auf den mit Wein berankten Süd-Giebel seines Wohnhauses. „Als ich das Grundstück gekauft hatte, war der umgestürzt“, sagt er. Die ersten Aufrichtungsversuche endeten damit, dass auch die Seitenwände einstürzten und das Dach absackte. „Im Prinzip war das Haus nicht mehr zu gebrauchen und hätte abgerissen werden müssen“, sagt Singer.
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Doch Singer entschied sich für den Wiederaufbau - auch weil er eine Leidenschaft für Lehmhäuser hatte. Nach der Wende rekonstruierte er bereits in seinem Heimatort Mosigkau (Dessau-Roßlau) ein Einfamilienhaus aus dem klebrigen Material. Zu dieser Begeisterung kam noch ein gewisser Tatendrang hinzu. „Als ich das Anwesen kaufte, war ich 40 Jahre alt“, sagt Singer. „Da wollte ich noch einmal ein großes Projekt anpacken.“
Die nächsten vier Jahre war er täglich mit dem Hausbau beschäftigt. Dass es so lange dauerte, hing auch damit zusammen, dass Singer sich für eine authentische Rekonstruktion entschied. Das Haus sollte so gebaut werden, wie es im 19. Jahrhundert entstanden war. Mit Materialien und Techniken, die man damals nutzte. „Alles sollte bis ins Detail originalgetreu sein“, sagt Singer. Sogar Kreuzschlitz-Schrauben waren verboten, weil die erst später erfunden wurden.
Kaum neue Marterialien
Dafür brauchte er kaum neue Materialien. Singers Heim ist eigentlich ein recyceltes Haus. Er nutzte nämlich fast ausschließlich schon einmal verbaute Sachen. „Eigentlich habe ich das alles aus dem gebaut, was andere für Abfall gehalten haben.“ Dachbalken, Dielung, Ziegel oder Türen stammen aus Gebäuden, die abgerissen werden sollten. Und für die Mauern verwendete er den Lehm seiner zusammengefallen Wände. Mit Wasser und Stroh vermischt, machte Singer ihn wieder nutzbar.
Ein aufwendiger Prozess sei das gewesen. Lehm trocknet nur sehr langsam. „Allein die Mauern dauerten ein Jahr“, erzählt Singer. Dafür ist sein Haus auf Grund der wiederverwendeten Materialien sehr umweltschonend. Und in Lehm zu wohnen, hat große Vorteile. „Die Luftfeuchtigkeit ist das Jahr über konstant bei rund 40 Prozent“, sagt Singer. Außerdem ist es auch bei großer Hitze dank der 60 Zentimeter dicken Wände angenehm kühl.
Die Würdigung seiner jahrelangen Arbeit gab es dann am 12. Dezember 2008. In Magdeburg bekam er den ersten Platz beim „Bundespreis für Handwerk in der Denkmalpflege“ verliehen. Schlösser und Gutshäuser ließ er hinter sich. Die Jury lobte insbesondere den Einsatz alter Techniken und die Einbeziehung örtlicher Handwerksbetriebe. In der Laudatio wurde zudem ein Wunsch formuliert: Singers Haus solle viele Nachahmer finde. Auch Singer ist das noch heute ein Anliegen.
„Natürlich war der Aufbau anstrengend“, sagt er. Aber es lohne sich auch. Nicht nur weil es ein ökologisches Bauen ist, sondern auch, weil solche Häuser ein Teil der regionalen Geschichte sind und Identität zurückgeben. „In der Straße hier in Großkühnau ist mein Dreiseitenhof das einzige Lehmhaus“, sagt Singer. Früher hingegen waren mal alle Häuser aus diesem klebrigen Material. (mz)
