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MZ-Artikel vom 15. August 1990 MZ-Artikel vom 15. August 1990: Rolling Stones in Berlin - zum ersten Mal im Osten

Von Hans-Erdmann Gringer 14.08.2015, 09:00
Rolling-Stones-Sänger Mick Jagger am 14. August 1990 in Berlin Weißensee beim ersten Konzert der Band in der DDR.
Rolling-Stones-Sänger Mick Jagger am 14. August 1990 in Berlin Weißensee beim ersten Konzert der Band in der DDR. Archiv/ADN Lizenz

Berlin - Viele Rockfans können es noch nicht glauben - die Stones waren in der DDR. Die DM machte es wohl möglich, daß ein Traum Wirklichkeit, eine Legende endlich greifbar wurde. Nach dem erfolgreichen Ende ihrer ,,Urban Jungle Tour 90", die sie bereits am 6. Juni in den Westteil Berlins geführt hatte, setzten die Rollenden Steine nachträglich noch eins drauf und boten Montag und gestern Konzerte ihrer so begeistert aufgenommenen "Steel Wheels"- Show auf der Radrennbahn in Berlin-Weißensee. (Extra für die beiden Weißensee-Konzerte war noch einmal das gesammte Stahlräder-Team mit kompletter Bühnenausstattung aus Amerika eingeflogen worden). Für ihre umfangreiche Fangemeinde in der DDR ließen die Stones sogar den Eintrittspreis mit 43 DM im Vorverkauf weit unter ihrem sonst üblichen Limit sinken. Gerade auch den 13. August als symbolträchtiges Datum hatte sich die als härteste Band der Welt gefeierte und in der Einheits-DDR vielgeschmähte Gruppe ausgesucht, um nun auch endlich den Rockern hierzulande zu zeigen, was Sache ist. Auf deutsch begrüßte Mick Jagger die Fans aus Leipzig, Potsdam und Erfurt freundlich und auf sein "Are you feel good?" - "Fühlt Ihr Euch wohl?" antworteten 50 000 Kehlen im weiten Rund mit einem frenetischem "Yes".

Ein 140minütiges Programm der Superlative

Was dann folgte war ein fast 140minütiges Programm der Superlative, ein Feuerwerk der Hits und der Stimmung. Nichts war da zu spüren von Tournee-Müdigkeit nach insgesamt 130 Bühnenauftritten in den vergangenen zehn Monaten. Mick Jagger beherrschte die Szene wie in alten jungen Tagen, fegte unentwegt über das 80 Meter breite und 30 Meter tiefe Bühnenareal, das futuristisch aufgemacht an ein Raumschiff zu erinnern schien. Was der Uralt-Rock'n Roller und Stonesfrontmann mit seinen Team zeigte, ließ die Fans noch einmal im Siebenten Rock-Himmel schweben. Allein schon der Auftakt wie ein Hammerschlag: Bombastischer Einsatz mit Flammenwerfer und Feuerwerk, Lichteffekt und Stonestiteln der 80er Jahre. Mick war nicht zu bremsen, Keith Richards, dessen faltiges Gesicht immer jünger wurde und Ron Wood, griffen in die Saiten und entlockten den Gitarren die bluesigen Riffs, für die die Stones so berühmt sind. Drummer Charlie Watts gab mit Bill Wymann am Bass gewohnt zuverlässig wie ein Uhrwerk und unauffällig den Rhythmus vor. Mit dabei diesmal die beiden Keyborder Chuck Leavell und Matt Clifford sowie der Saxophonist Boby Keys.

Frisch und urwüchsig wie am ersten Tag

Die fünf alten und großen Männer des Rock zogen alle Register ihres Könnens und spielten mit vollem Einsatz die Hits, die in den 60em zum unbedingten Muß auch der Rockgruppen zwischen Rostock und Suhl gehörten: "Paint it Black"; "Sympathy for de Devil"; "Street Fighting Man"; "Geme Shelter" und nicht zu vergessen "Ruby Tuesday" und "Jumping Jack Flash". Die Fans sangen Song für Song, immer wieder von Mick angestachelt, begeistert mit. Bei "It's only Rock'n Roll" wurde dann am besten deutlich, warum die Musik der Steine auch nach 25 Jahren und mittlerweile 37 Langspielplatten noch so frisch und urwüchsig wie am ersten Tag über die Rampe kommt: sie ist ebenso kraftvoll wie leise, melodiös wie rockig, vor allem aber ehrlich und kompromißlos. Sie saugt ihre ganze Kraft und Energie aus den Wurzeln Rock'n Roll und Rhythm & Blues, und das spüren auch die Rocker in der mittlerweile dritten Generation, auf die die Stones ebenso eine Anziehungskraft ausüben wie auf ihre Väter und Großväter. Als nach über zweieinviertel Stunden die Bühne dunkel wurde, verließ keiner das Stadion. Alle warteten auf die Zugabe, und die konnte nur der Titel sein, der zum Symbol seiner Zeit geworden ist: "I Can't Get No Satisfaction". Noch einmal ein Aufbäumen und ein Tanz auf dem Vulkan - dann hatte die Supershow ein Ende. Zufrieden und glücklich verließen die 50 000 Weißensee. Sie hatten ihre Idole gesehen und gehört und waren sich einig: Es war das Größte.

In der DDR offiziell verpönt und heimlich geliebt

Zweifellos war die längst fällige DDR-Premiere der Stones nicht nur ein Ereignis von musikalischem Rang. Wie keine zweite Rockband stand sie in der Ex-DDR mit ihren für schockierenden und provokanten Songs auf der Abschußliste sozialistischer Kulturpäpste. Die Musik und das Gebaren des britischen Quintetts galten hierzulande als perverse Auswüchse bürgerlicher Dekadenz und Kulturlosigkeit schlechthin. Ihre Musik wurde verboten (aber heimlich massenweise konsumiert), die sie spielenden Bands erhielten Auftrittsverbot. In regelmäßigen Abständen erschienen in Jugendzeitungen "Kritiken" von Konzerttourneen der Stones, in denen die Auftritte der Gruppe etwa als "Versuche des Imperialismus" gewertet wurden, "sich über die Zeit zu retten, um bei jungen Menschen taube Ohren zu schaffen für die Ideen des Sozialismus und der Menschlichkeit", wie die "Junge Welt" zum Beispiel 1973 schrieb. (Die Zeitung muß übrigens selbst ein Gefühl der Scham beschlichen haben, denn sie nahm die Stones-DDR-Premiere zum Anlaß, einen 6seitigen Sonderdruck mit vielfältiger Information zur "ältesten Rock-Band der Welt" vor Ort anzubieten). All das hielt aber die vielen Fans in der DDR nicht davon ab, ihren Stones weiterhin die Treue zu halten. Als 1969 das Gerücht umging, die Steine würden für ihre DDR-Fans auf dem Springer-Hochhaus an der Mauer spielen, mobilisierte das Hunderte Jugendliche, gegen die die Polizei mit Härte vorging.

Wiedergutmachung an einer Spitzenband

Noch 1982 war die erste und bisher einzige in der DDR erschienene Langspielplatte des britischen Quintetts mit Hinweisen auf die zweifelhaften Texte und das aggressive Auftreten der Band versehen. Ein 1986 im Musikverlag herausgegebenes Buch über die Band orientierte sich schlichtweg am "skandalösen Lebenswandel" der Steine und erschien mit dem didaktischen Untertitel "Musik und Geschäft". Insofern waren die beiden ersten und wahrscheinlich letzten Auftritte der Rollenden Steine in der DDR auch eine Wiedergutmachung einer Musikgruppe gegenüber, die der Rockmusik entscheidende Impulse vermittelt hat und einen wichtigen Platz in der Geschichte des Rock einnimmt, den ihr niemand mehr streitig machen kann.

Die Fans auf der Radrennbahn in Berlin-Weißensee kannten am 14. August 1990 kein Halten: Die Rolling Stones waren in der DDR!
Die Fans auf der Radrennbahn in Berlin-Weißensee kannten am 14. August 1990 kein Halten: Die Rolling Stones waren in der DDR!
Archiv/ADN Lizenz