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Magdeburg Magdeburg: Ohne Ecken und Kanten

Von Hendrik Kranert 01.09.2006, 21:15

Halle/MZ. - Im fünften Stock liegt eine Wiese. Hüfthohes Gras, von der Sonne verbrannt. Dazwischen duftende Kamille. Roter Mohn. Apfelbäume. Pflaumen. Und Birnen. Dahinter geht es den Hang hinauf. Bernward Beier sitzt hier oft. Die perfekte Idylle, wenn überm Karstadt die Sonne versinkt. Nur das Summen der Insekten ist irgendwie anders. Lauter. Und monotoner. Die Insekten sind schön bunt und hintereinander aufgereiht. Autos, unten, auf dem Breiten Weg in Magdeburg.

Bernward Beier bezeichnet sich selbst als "ein bisschen verrückt". Muss man wohl auch sein, wenn man statt eines Schrebergartens am Stadtrand ein verwildertes Teletubbie-Land vorzieht auf einem der sonderbarsten Gebäude in Sachsen-Anhalt. "Als klar war, dass hier das letzte Hundertwasser-Haus gebaut wird, war für mich klar, dass ich da einziehe." Beiers Augen blitzen, das Kinn mit dem grauen Bart zuckt aufgeregt wie beim Rumpelstilzchen aus "Spuk unterm Riesenrad". Der Geschäftsführer in Rente ist einer von etwa 40 Mietern in der Grünen Zitadelle - so hat Friedensreich Hundertwasser sein letztes Projekt genannt. Eine rosarote Trutzburg mit goldenen Kuppeln und Zwiebeltürmchen - zwischen romanischem Dom, barockem Landtag, Gründerzeitvillen und kühler Neuzeit-Architektur. Vielen ist die Riesen-Bonbonniere auch ein Jahr nach der Eröffnung noch suspekt.

Nicht so Beier oder Ruth und Manfred Böhm. Die Böhms sind Ur-Magdeburger und haben jahrzehntelang in der Platte gewohnt, die hier vor Hundertwassers Haus stand. "Mein Mann wollte unbedingt wieder zurück", erzählt sie. Hundertwasser habe das Verlangen nur noch gesteigert. Breiter Weg 10, die Adresse ist geblieben. Und auch die Biedermeier-Anrichte in der Stube. "Die kommt nun erst richtig zur Geltung", schwärmt Ruth Böhm (76). Und räumt mit der Mär auf, Hundertwasser sei nur was für flippige Typen. "Ich habe hier auch schon komplette Schrankwände gesehen", berichtet Bernward Beier schmunzelnd. Hinter den Wohnungstüren endet Hundertwassers Bestreben, den Menschen Ecken und Kanten beim Wohnen zu ersparen. Und es endet der Versuch zu klären, was Kunst ist und was Kitsch. In der Wohnung kann jeder machen, was er will. Und anders als Hundertwassers Nachlassverwalter Joram Harel einmal behauptete, konnte sich jeder Mieter auch seine Fliesen im Bad aussuchen.

Die Böhms haben sich für Hundertwassers Entwürfe entschieden - "natürlich", sagt Ruth Böhm. So manchem Besucher wird zwar beim Rundblick auf dem Klo schwindlig. Doch die Böhms lieben die bunten, verspielten Kacheln, denen eines mit Sicherheit nicht eigen ist - Gleichmäßigkeit. Was im Kleinen gilt, gilt bei Hundertwasser selbstverständlich auch im Großen: Keine Wohnung sieht so aus wie die andere. Und wem das immer noch nicht genug ist, der kann bei Bedarf gleich ganze Wände verrücken. Solange sie nicht tragend sind. Bernward Beier, den alle nur Kastellan nennen, weil er direkt unter dem wachturmartigen Aufsatz der Zitadelle wohnt, hat davon Gebrauch gemacht. "Ich wollte schon immer eine Wohnküche, also habe ich die Wand zwischen den Zimmern einfach rausgenommen." In der Wohnung ist Beier (65) mit seiner Katze Emma (15) allein. Wenn er aus der Tür tritt, jedoch sofort unter Menschen.

Merkwürdiges hat sich ereignet in diesem Gebäude, das so groß ist wie zwei Fußballfelder. Es ist eine Gemeinschaft entstanden: nicht verschworen, sondern offenherzig und gesellig. Im Juli haben sich alle - Mieter, Händler und Vermieter - auf dem Dach zum Grillfest getroffen. Das war nicht aufgesetzt, "das haben wir alle irgendwie gewollt", erzählt Beier versonnen. An Tagen, wo er mal nicht so gut drauf ist, geht er einfach runter in den Innenhof, stellt sich an den Springbrunnen. Es dauert meist nur ein paar Minuten, dann sind da die staunenden Kinderaugen, die das Haus entdecken und Beier fröhlich machen.

Die Böhms sitzen bei Kaffee und Baumkuchen auf dem Balkon. Das Plätschern des Springbrunnens mischt sich mit dem Gemurmel der Besucher. "Wer die absolute Ruhe sucht, ist hier natürlich verkehrt", sagt Manfred Böhm (72). Aber Großstadtkinder wie er brauchen den Trubel. Wieder ausziehen? "Wo denken Sie hin?" Und wenn es doch mal zu laut wird, fahren sie hoch in den fünften Stock, machen neben Bernward Beiers Wohnung die Tür auf und treten hinaus ins Grüne. Skat in der Hollywoodschaukel? Warum nicht. Boxer Laura genießt derweil den Auslauf über den Dächern von Magdeburg.

Drei Hügel unter Beiers fantastischer Wiese warten derweil im Kindergarten die Knirpse sehnsüchtig auf den ersten Schnee. Endlich Schlittenfahren. Nur die Tür auf und raus. Zwei Stockwerke über der Straßenbahn, im Teletubbie-Land. Verrückt.