Der letzte Sommer der DDR Trotz Wunderwerk der Technik: Exporte unter Wert, Rettung nicht in Sicht
Vor 35 Jahren brachen die letzten Tage der DDR an. Noch ahnte es niemand, doch es blieb kein halbes Jahr mehr bis zum Ende der SED-Herrschaft. Eine Serie schaut zurück.

Halle (Saale)/MZ. - Sie steht damals in einer Dachkammer in der Innenstadt von Halle, ein wahres Wunderwerk der Technik, umgeben vom Verfall der zum Abriss bestimmten Häuserzeile. Die elektronische Schreibmaschine Robotron S 6001, hergestellt im Optima Büromaschinenwerk in Erfurt, wirkt wie ein Stück leuchtender Zukunft in der tristen Gegenwart des letzten Sommers der DDR.
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Das futuristische Gerät hat einen eingebauten Prozessor U880 und einen Datenspeicher, es besitzt Leuchtdioden, die den Betriebszustand anzeigen, und es lassen sich über eine universelle Schnittstelle sogar externe Geräte anschließen. 10.000 Mark kostet das Technik-Kunstwerk aus Thüringen. Nach DDR-Maßstäben nahezu ein Jahresgehalt. Zu kaufen ist es nirgends.
Ärger im Westen über Ost-Importe
Nach bundesdeutschem Befund aber ein kriegerischer Akt. Beim westdeutschen Hightech-Konzern Brother ist Geschäftsführer Harald Rudloff jedenfalls geladen in diesen Juli-Tagen. Auch die deutsche Tochter des japanischen Brother-Konzerns stellt elektronische Schreibmaschinen her.
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Doch die Konkurrenz aus dem Osten macht der Firma das Leben schwer. „Eine Lebensmittelkette verkauft eine Schreibmaschine für nur 298 und 329 Mark“, ärgert sich der Manager aus dem hessischen Bad Vilbel, für dessen Geräte mehr als 500 Mark aufgerufen werden. Und die Europäische Kommission dulde das, „obwohl die Schreibmaschinen der DDR-Bevölkerung so gut wie gar nicht zugänglich sind“.
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Zum Glück für die wankende DDR, die sich selbst gern als zehntgrößte Wirtschaftsnation der Welt bezeichnet, aber kaum Waren anzubieten hat, die auf dem Weltmarkt gefragt sind. Um trotzdem Devisen zu erwirtschaften, muss Wirtschaftschef Günter Mittag teuer hergestellte Produkte unter Wert verkaufen.
Planungschef Gerhard Schürer warnt intern schon lange, dass Minusgeschäfte wie die von Erich Honecker selbst befeuerte Konzentration auf Mikroelektronik ein Kraftakt ist, den sich die DDR eigentlich nicht leisten kann.
Milliarden für Mikrochips
Doch im ZK der SED gelten die investierten 30 Milliarden DDR-Mark als gut angelegtes Geld: Zwar hinkt die neue Schaltkreis-Generation, die im Erfurter VEB Mikroelektronik „Karl Marx“ hergestellt werden soll, dem Weltmarkt um Jahre hinterher.
Doch die Hoffnung, in den von westlichen Sanktionen geplagten Bruderländern Absatzmärkte zu finden, veranlasst die SED-Führung, fünf Jahre sieben Prozent aller verfügbaren Mittel in den neuen Industriezweig zu pumpen.
Draußen im Land aber wollen die Menschen nicht mehr auf eine Zeit warten, in der sie so gut leben können, wie sie jetzt schon arbeiten sollen. Auch im Sommer 1989 protestieren weiterhin Menschen gegen die Wahlfälschung vom März.
MZ-Serie: Der letzte Sommer der DDR
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Die Volkspolizei muss erstmals sogar gewaltsam eine Demo auf dem Berliner Alexanderplatz auflösen, bei der Teilnehmer „Wir bleiben hier“ statt „Wir wollen raus“ rufen – eine Vorstufe des späteren „Wir sind das Volk“.
Andere sitzen auf gepackten Koffern, zögernd oft, aber mit großen Ohren, wenn das Westfernsehen berichtet, dass immer mehr DDR-Bürger die faktisch offene Grenze in Ungarn nutzen, um gefahrlos hinüber nach Österreich zu flüchten.