Nach dem Krieg verschwunden Nach dem Krieg verschwunden: Wo ist "Heinrich"? Die Suche nach einem unehelichen Sohn

Leipzig - Als Henk Corvers Leipzig Ende Mai 1945 verlässt, sieht er seinen Sohn wahrscheinlich das letzte Mal. Der Junge ist keine zwei Jahre alt, als sein Vater zurück in seine Heimat, die Niederlande, geht und dort sein altes Leben weiterlebt.
Von seiner Zeit in Leipzig, wo er ab Dezember 1942 als Zwangsarbeiter bei der Reichspost arbeitete, erzählt er nicht viel. Seinen Sohn, den er mit einer deutschen Frau bekam, erwähnt er nie - nicht gegenüber seinen Eltern, nicht gegenüber seinen vier Kindern, womöglich nicht einmal gegenüber seiner Ehefrau. Er bleibt sein Geheimnis, gut gehütet - bis zum Ende. 2004 stirbt Henk Corvers. Und auch das Wissen um sein Kind verschwindet damit - fast zumindest.
Toine Corvers sucht seinen Vetter in Leipzig
Denn die Existenz seines Sohnes konnte Corvers nicht ganz für sich behalten. „Wer so ein großes Lebensgeheimnis mit sich trägt, der muss sich wohl jemanden anvertrauen“, sagt Toine Corvers. Der 68-jährige Niederländer ist der Neffe von Henk. Und zusammen mit den Kindern seines Onkels will er den Verwandten aus Deutschland finden. „Der Junge, der damals in Leipzig geboren wurde, ist mein Vetter“, sagt Toine Corvers. „Er gehört zu unserer Familie und wir wollen wissen, was aus ihm geworden ist.“
Über seine Mission erzählt Toine Corvers am Telefon. Der pensionierte Chemiker spricht gut Deutsch, lebt in der Nähe von Maastricht, in der Grenzregion zwischen den Niederlanden, Deutschland und Belgien. „Dass mein Onkel noch ein Kind hatte, wissen wir erst seit etwa zwei Jahren“, sagt Toine Corvers. In der Familie habe es zwar schon zuvor so ein Gerücht gegeben. Doch offen äußerte sich sein Onkel nie dazu.
Henk Corvers vertraute Geheimnis um Sohn in Leipzig zwei Menschen an
Zwei Menschen allerdings erzählte Henk Corvers von seinem Sohn, nachdem er aus dem Krieg zurückkam. Der eine war sein älterer Bruder. Der andere ein Arbeitskollege, mit dem er immer lange Fahrradtouren unternahm. Und dieser Kollege erzählte das Geheimnis seiner Frau, die es wiederum ihrer Schwester sagte. Und die sprach, bevor sie starb, mit ihrer Tochter darüber. Und von dieser Tochter kam dann die Gewissheit für Toine Corvers und die Familie seines Onkels.
„Das war ein kleiner Schock, aber auch ein großer Antrieb für uns“, sagt Toine Corvers. Zusammen mit den Kindern von Henk beginnt er die Suche nach dem unbekannten Familienmitglied. Sie durchforsten alles, was der Onkel zu seiner Zeit in Deutschland hinterlassen hat.
Sie finden Bilder von ihm in Leipzig. Eines zeigt ihn mit anderen niederländischen Zwangsarbeiten vor einem Fußballspiel. „Er lebte mit 20 bis 25 anderen Männern in einem Lager auf dem Postsportplatz in Leipzig-Stötteritz, im Süden der Stadt“, erzählt Toine Corvers. Sie mussten dort Briefe und Pakete sortieren und Waggons beladen. „Es war eine schwere Arbeit, aber als westeuropäische Zwangsarbeiter hatten sie auch Freizeit und durften alle sechs Monate Heimat-Urlaub machen.“
Das Kind bekommt einen Namen
Bei seinen Recherchen stößt Toine Corvers auch auf die Liste der Männer, die damals im Stötteritzer Lager lebten. Und einen von ihnen kann er ausfindig machen. „Ich traf ihn, einen 95 Jahre alten Herren“, erzählt Toine Corvers. Er konnte sich an die Zeit in Leipzig erinnern. Und auch an das Kind, das damals geboren wurde. „Er sagte uns, dass es den Namen Heinrich bekam, was durchaus passend ist.“ Denn Henk war nur der Rufname des Onkels. Getauft wurde er auf den Name Henricus, der auch in Ausweisdokumenten steht. Und Henricus ist die lateinische Form von Heinrich.
Das Kind hatte nun einen Namen. Und Toine Corvers entschied sich, seinen Cousin Heinrich dort zu suchen, wo er am ehesten zu finden sein konnte: in Leipzig. Im April reist er mit seiner Frau nach Sachsen und verbringt einige Tage im Stadtteil Stötteritz. Sie durchleuchten Taufregister, gehen in Archive und sogar in ein Altersheim. „Eine Bewohnerin dort erinnerte sich an die Holländer, die immer so lustig waren“, erzählt Toine Corvers. Von seinem Onkel oder gar dessen Sohn wusste sie jedoch nichts.
Suche nach „Heinrich“ führt auf falsche Fährte
Die Corvers treffen sich auch mit Anne Friebel von der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig. Der Verein bekommt regelmäßig Anfragen zum Schicksal von Zwangsarbeitern. „Oft sind es Angehörige, die im Nachlass ihrer Eltern oder Großeltern Hinweise darauf gefunden haben, dass sie in Leipzig waren.“ Es gehe dann darum herauszufinden, was sie dort gemacht und wie sie gelebt haben.
„Dass jemand den Sohn eines Zwangsarbeiters sucht, kommt eher selten vor“, sagt Friebel. Die Tatsache, dass die Zwangsarbeiter auch Kinder zeugten, sei auch weitestgehend tabuisiert - noch heute. „Vielen Kindern wird gar nicht gesagt worden sein, wer ihr Vater war.“ Deswegen fehle es auch an einem Bewusstsein dafür. Friebel kann sich nur an einen Fall erinnern, bei dem sogar ein vermeintlicher Nachkomme eines französischen Zwangsarbeiters gefunden wurde. „Die Familie ließ dann sogar einen DNA-Test machen - der fiel allerdings negativ aus.“
Auch bei Toine Corvers und seiner Familie gibt es diesen Moment, in dem sie glauben, den vermissten Cousin gefunden zu haben. Im Stadtarchiv in Leipzig stoßen sie auf einen Heinrich aus Stötteritz, der in die Suchkriterien passt. Sie schreiben ihm und er antwortet sogar. „Er meinte, dass er gerne vier Geschwister haben würde - aber leider sei er nicht zwischen 1943 und 1945 geboren“, erzählt Toine Corvers.
Bei der Suche nach „Heinrich“ kommen immer mehr Fragen auf
Und so bleiben nur die Informationsfetzen, aus denen sich die Zeit des Onkels in Leipzig zusammensetzen lässt. So kommen sie auf die Spur einer Frau Meyer, die sich um die Zwangsarbeiter in Stötteritz gekümmert hat - freiwillig, wohl aus Hilfsbereitschaft. Toine Corvers findet auch heraus, dass der Vorgesetzte im Postamt Walter Schiller hieß, dass seinem Onkel mal Sachen verloren gingen und wann er Urlaub beantragt hatte. Zu seinem Sohn, dessen Mutter und wie sie sich kennenlernten - dazu findet der Neffe in Leipzig allerdings keine Hinweise.
Die Suche ist ernüchternd. Sie wird jedoch auch zur Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte. Denn beim Stöbern in Archiven, Befragen von Zeitzeugen und Auswerten alter Briefe schwingen immer auch Fragen mit: Warum hat der Onkel seinen Sohn immer verschwiegen? Und hat er versucht, ihn später noch einmal zu finden?
Der Druck des Glaubens
„In unserer Familie war der katholische Glaube immer sehr stark“, erzählt Toine Corvers. „Die Eltern meines Onkels hätten es als große Schande empfunden, wenn ihr Sohn mit einem unehelichen Kind aus Deutschland zurückgekehrt wäre.“ Zumal Henk Corvers bereits eine Frau hatte. Er heiratete im Juli 1942 seine Freundin, weil das Gerücht umging, dass verheiratete Männer nicht zur Zwangsarbeit eingezogen werden. Es war die Frau, mit der er nach dem Krieg vier Kinder bekam. Die Ehe wurde nie getrennt.
„Der familiäre Druck war so groß, dass er sich nicht traute, wieder Kontakt aufzunehmen“, denkt Toine Corvers. Trotzdem ist er davon überzeugt, dass sein Onkel sein Kind in Leipzig nie vergessen hatte. „Er war derjenige in der Familie, der immer besonders hart die katholische Kirche und ihre Regeln kritisierte.“ Auch habe er mit 50 Jahren begonnen, an Depressionen und Angstanfällen zu leiden. „Heute verstehen wir, was wirklich mit ihm los war“, sagt Toine Corvers.
Henk Corvers wollte wohl noch einmal nach Leipzig reisen
Die Frau seines Onkels habe einmal im kleinen Kreis gesagt, dass sie Angst habe, dass Henk wieder zurück nach Leipzig geht. Gemacht hat er das allerdings nie. „Obwohl der Krieg in Leipzig schon am 18. April beendet war, blieb mein Onkel noch bis Ende Mai dort.“ Wohl, um bei seinem Sohn sein zu können. „Auch danach wollte er mit seinen Lagerkollegen noch einmal in die Stadt zurückkehren.“ Das sei aber an den schwierigen Einreisebestimmungen der DDR gescheitert.
Toine Corvers sagt, er und seine Familie wollen auch etwas wieder gut machen und den Schritt wagen, den sein Onkel nicht geschafft habe. „Heinrich gehört zu unserer Familie und wir wollen erfahren, wie die Leben von ihm und seiner Mutter verlaufen sind - und er soll wissen, dass er vier Geschwister hat und viele Verwandte, die ihn unbedingt kennenlernen möchten.“ (mz)
››Wer Hinweise zu Henk Corvers, seiner Freundin in Leipzig und deren Kind hat - oder wer eine Frau Meyer oder Walter Schiller aus Leipzig kennt bzw. gekannt hat - der kann sich per Mail unter [email protected] melden.

