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Corona und Chaos Corona und Chaos: So hat unser Reporter die Eskalation der Gewalt in Leipzig erlebt

Von Julius Lukas 08.11.2020, 20:30
Zwischen Augustusplatz und Hauptbahnhof griffen Neonazis am 7. November die Polizei an und bahnten den Anti-Corona-Demonstranten so den Weg zur illegalen Demo.
Zwischen Augustusplatz und Hauptbahnhof griffen Neonazis am 7. November die Polizei an und bahnten den Anti-Corona-Demonstranten so den Weg zur illegalen Demo. ZB

Leipzig - Gegen 16 Uhr kippt die Stimmung auf dem Augustusplatz in Leipzig. Einige Minuten zuvor hatte die Polizei die „Querdenken“-Demonstration für beendet erklärt, weil zu viele Teilnehmer sich nicht an die Auflagen gehalten haben.

Nun sollen die Menschen vom Platz im Zentrum der Stadt geleitet werden. Dazu sperrt die Polizei Seitenstraßen ab. Das gefällt nicht jedem.

Ein Mann auf einem Liegefahrrad fährt mitten in eine Absperrung der Polizei. Als diese ihn wegdrängen, schlägt er nach den Beamten. Sofort bildet sich ein Pulk von Menschen um die Szenerie. Es wird geschrien: „Lasst den Mann durch!“ und „Schämt euch“.

Die Aggressionen gewinnen ab dem späten Nachmittag in Leipzig die Oberhand. Polizisten werden mit Pyrotechnik attackiert und von einer „Widerstand“ brüllenden Menschenmenge vor sich her getrieben.

Im linken Stadtviertel Connewitz brennen die ganzen Nacht über Barrikaden, eine Wache wird mit Steinen demoliert. Rechts- und Linksextremisten wüten durch die Stadt – das hatten sie zuvor schon im Internet angekündigt. Trotzdem ist die Polizei überfordert.

45.000 Demo-Teilnehmer in Leipzig

Dabei begann der Demo-Tag in Leipzig weitestgehend friedlich. 27 Versammlungen waren für den Samstag in der Stadt angemeldet. Die größte darunter wurde von der Bewegung „Querdenken“ organisiert. 

Sie fand im Zentrum von Leipzig statt, auf dem Augustusplatz. Die Polizei spricht von etwa 20.000 Teilnehmern. Die unabhängige Initiative „Durchgezählt“ geht von 45.000 Personen aus.

Querdenker distanzieren sich von Gewalt

Anliegen der „Querdenker“, die sich von Gewalt stets distanzieren, ist es, die Corona-Maßnahmen der Regierung zu lockern und rückgängig zu machen.

Covid-19 sehen sie als nicht wesentlich gefährlicher an als die saisonale Grippe. Die Einschränkungen – so schallt es von der Bühne, so liest man es auf Plakaten und so hört man es von Demonstranten – empfinden sie als Abschaffung der Demokratie.

Dabei ermöglichte ihnen gerade ein demokratischer Prozess, überhaupt auf dem Augustusplatz zu demonstrieren. Denn die Stadt Leipzig hatte die Versammlung erst an den Rand der Stadt, auf das Messegelände verlegt.

Der Grund: Nur dort könne bei so vielen Teilnehmern im Sinne des Infektionsschutzes genug Abstand gehalten werden. Die Querdenken-Organisatoren legten Beschwerde ein. Am Freitag bestätigte das Verwaltungsgericht Leipzig den Beschluss der Stadt.

Am Samstagmorgen dann kippte das sächsische Oberverwaltungsgericht in Bautzen die Verlegung wieder. Es durfte auf dem Augustusplatz demonstriert werden. Die Teilnehmerzahl wurde auf 16.000 festgesetzt.

Und so platzt der Platz im Herzen der Messestadt zum Demonstrationsbeginn am Samstag um 13 Uhr aus allen Nähten. Dicht an dicht stehen die Teilnehmer.

1,50 Meter Abstand – so eine Auflage für die Versammlung – können kaum eingehalten werden. Von der Bühne fordern die Organisatoren die Leute auf, in die Seitenstraßen auszuweichen. Das bringt zumindest etwas zwischenmenschlichen Freiraum.

Mit Maske Außenseiter

Während beim Abstand noch versucht wird, die Vorgaben einzuhalten, ignorieren die Teilnehmer eine andere Auflage fast komplett: die Maskenpflicht.

Mit Mund-Nasen-Schutz ist man in der Menge krasser Außenseiter. Von der Bühne witzelt einer der Organisatoren: „Ich gehe davon aus, dass ihr alle ein gültiges Attest habt.“

Die Polizei spricht später von 90 Prozent der Teilnehmer, die keine Maske tragen. Das Bewusstsein ist bei den Beamten also da, nur schreiten sie nicht ein. Es entstehen paradoxe Bilder.

Polizei kapituliert vor der schreienden Masse

Während Leuchtdisplays der Polizei auf Abstand und Maskenpflicht hinweisen, lehnen darunter Beamte an ihren Einsatzfahrzeugen und lassen die unverhüllten Demonstranten gewähren.

Es ist die Kapitulation vor der schieren Masse der Verweigerer und nicht das letzte Zurückweichen der Polizei an diesem Tag.

Die Abschaffung der Maskenpflicht ist allerdings auch ein zentrales Anliegen der „Querdenken“-Demo. Wieso, erklärt ein Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte.

Er sei Familienvater, habe Kinder in der Schule. „Wenn die den ganzen Tag diese Masken tragen, dann führt das zu Schwindel, Übelkeit und Konzentrationsstörungen.“ Diese gesundheitlichen Folgen zuzulassen, halte er für unverhältnismäßig – zumal der Sinn von Masken ja durchaus umstritten sei.

Der Mann ist in Sorge um seine Kinder und er begründet seine Ansichten auch. Man kann mit ihm diskutieren. Trotzdem möchte er anonym bleiben – aus Angst vor Schikane, wie er sagt. So ist es bei vielen Demonstrationsteilnehmern an diesem Tag.

Die meisten winken gleich ab. Eine Frau mit Herzchenluftballons in der Hand erzählt, dass sie schlechte Erfahrungen mit Interviews gemacht habe. Ähnliches schildert ein Mann, auf dessen T-Shirt „Umarmbar“ steht.

Ein Paar jedoch, das sich in einer ruhigen Demo-Ecke kurz gesetzt hat, ist bereit zu reden. Allerdings auch nur anonym. Die beiden stammen aus der Nähe von Hamburg und sind extra nach Leipzig gereist, weil sie ihre Freiheit gefährdet sehen.

„Ich fühle mich durch die ganzen Corona-Beschränkungen eingesperrt“, sagt die Frau. Die Zahl der Infizierten rechtfertige die schwerwiegenden Eingriffe in die Grundrechte nicht. Ihr Mann geht noch etwas weiter. „Wir ziehen die Wirtschaft in den Abgrund und machen die Mittelschicht kaputt“, sagt er und befürchtet, dass daraus auch ein Bürgerkrieg entstehen könnte.

Das Meinungsspektrum bei den „Querdenkern“ ist breit. Es reicht von Kinderrechtlern über Tierschützer bis hin zu Demonstranten wie Tino Fahrenkampf aus Halle.

Er empfindet die Maßnahmen als unlogisch. „Warum müssen Gastronomen ihre Geschäfte schließen, obwohl es bei ihnen kaum Infektionen gab“, fragt der Student. So etwas müsste mehr diskutiert werden.

Das findet auch Nico Weiß. Der Zwickauer ist Organisator einer „Querdenken“-Nebendemo, die eine Art Diskussionsforum sein soll. An zwei Mikrofonen darf sprechen, wer möchte.

„Mittlerweile wird ja jeder in zwei Lager eingeteilt“, sagt Weiß. Entweder man gehört zur Fraktion, die Corona leugne oder zu denjenigen, die Covid-19 für eine „super-tödliche Krankheit“ halten. Diese Spaltung möchte der 31-Jährige gern überwinden. „Und das geht nur, indem wir wieder mehr miteinander reden und auch akzeptieren, wenn der eine für und der andere gegen Masken ist.“

Extremisten übernehmen

Mit dem kommunikativen Ansatz ist es spätestens mit der Auflösung der Demo auf dem Augustusplatz vorbei. Will man jetzt als Journalist noch mit jemanden reden, wird es unfreundlich.

Eine Frau in goldgelber Steppjacke raunt: „Mit Abschaum rede ich nicht.“ Gespräche? Unerwünscht! Die Extremisten rechts und links des Spektrums übernehmen.

Wurde während der Versammlung noch mantraartig von der Bühne gepredigt, dass „Querdenken“ eine friedliche Bewegung sei, so stürzen die Ausläufer der Versammlung die Stadt Leipzig nun in ein gewalttätiges Chaos. (mz)

Im Szeneviertel Leipzig-Connewitz ging die Polizei gegen Randalierer vor.
Im Szeneviertel Leipzig-Connewitz ging die Polizei gegen Randalierer vor.
 Andreas Stedler