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Unglück Unglück: Bahn schweigt zu ICE-Unfall mit zwei Toten - Kritik von Hinterbliebenen

Von Christian Schafmeister 30.11.2017, 13:11
Bei Bülzig wurden am 10. Dezember 2016  zwei Techniker der Deutschen Bahn von einem ICE erfasst.
Bei Bülzig wurden am 10. Dezember 2016  zwei Techniker der Deutschen Bahn von einem ICE erfasst. Thomas Klitzsch

Bülzig - Es sind schreckliche Bilder, die sich den Rettungskräften an diesem Dezemberabend an der Bahnstrecke bei Bülzig (Landkreis Wittenberg) bieten. Ein ICE aus München mit 320 Menschen an Bord hat dort zwei Bahn-Techniker erfasst, die Arbeiten an der Strecke ausführten.

Die Leichenteile der Männer liegen nun im Gleisbett verstreut. „Wir mussten entscheiden, wen können wir überhaupt an die Unglücksstelle schicken, wer verkraftet es und wer nicht“, erinnert sich Heiko Plewa, der damals als Einsatzleiter der Feuerwehr direkt vor Ort war. „Noch heute ist die Situation für viele der beteiligten Kameraden emotional äußerst schwierig.“

Unglück in Bülzig: Quälende Ungewissheit für Angehörige

Noch schwieriger als für die Einsatzkräfte ist die Situation für die Hinterbliebenen der 56 und 61 Jahre alten Techniker. Sie wissen auch nach einem Jahr nicht, was genau am 10. Dezember 2016 um 19.58 Uhr zu dem Unglück an Bahnkilometer 88,4 geführt hat und warum ihre Angehörigen sterben mussten.

Die Deutsche Bahn, das Eisenbahnbundesamt, die Bundespolizei, die Staatsanwaltschaft Dessau - keine der offiziellen Stellen hat bislang Ermittlungsergebnisse vorgelegt. Stattdessen verweisen alle Akteure seit Monaten aufeinander und schieben sich so die Verantwortung zu. Das nährt zwangsläufig Spekulationen.

Aus der Ermittlungsakte ließen „sich Umstände entnehmen, die auf ein nicht unerhebliches organisatorisches Verschulden in den Abläufen in Ihrem Unternehmen hindeuten“, schreibt der Anwalt der Witwe eines der Techniker am 3. November an die Bahn. So wurden die Techniker „angeblich nicht über die Umleitung des Zuges auf das von ihnen zu reparierende Gleis informiert“. Für die Angehörigen ist die andauernde Unklarheit verheerend.

Steffen Gommert: „Wir fühlen uns von der Bahn im Stich gelassen“

„Wir fühlen uns von der Bahn im Stich gelassen und sind alle immer noch geschockt, können nicht begreifen, was damals genau passiert ist“, sagt Steffen Gommert, dessen Schwiegervater Wolfgang K. einer der beiden Toten von Bülzig ist.

„Von Seiten der Bahn kommt keinerlei Unterstützung, das macht uns alle wütend“, bekräftigt er. Nicht einmal die Hinterbliebenen-Rente sei bisher berechnet worden. „Da bekommt man das Gefühl, dass es der Bahn egal ist, was aus den Hinterbliebenen wird.“ Doch nicht nur das treibt Steffen Gommert um. Er versteht auch nicht, dass die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind. Da bekomme er das Gefühl, dass damals „jemand einen fatalen Fehler gemacht hat“.

Warum sind zwei so erfahrene Techniker ums Leben gekommen?

An seinen Schwiegervater Wolfgang K. und dessen Kollegen denkt er dabei nicht. „Beide haben zusammen mehr als 80 Jahre Berufserfahrung und sich immer blind verstanden.“ Zudem seien sie immer sehr vorsichtig, nie leichtsinnig gewesen und hätten sich stets mehrfach abgesichert.

„Und wenn sie im Gleisbett arbeiten mussten, sind sie immer dem Zug entgegengelaufen, weil man die Züge zwar sehen, aber nicht mehr rechtzeitig hören kann.“ Seine Eindrücke habe nach dem Unglück auch der Chef der beiden Techniker bestätigt. „Er hat uns bei einem Besuch gesagt, die beiden seien seine besten Männer gewesen.“

Doch warum sind zwei so erfahrene Techniker ums Leben gekommen? Wurde der ICE 1006 an diesem verhängnisvollen Dezember-Abend auf das Nachbargleis geleitet, ohne dass die Techniker es wussten? Gab es Sicherungsposten an der Strecke? War die Strecke gesperrt? Und was haben die Vernehmungen des Lokführers und des Fahrdienstleiters ergeben, der all das eigentlich wissen muss? Schließlich entscheidet er in solchen Fällen über eine Sperrung und steht mit den Technikern im Gleisbett in Kontakt. Oder haben die Techniker doch einen Fehler gemacht?

Ermittlungen zur Ursache: Bahn und Behörden halten sich bedeckt

Auch auf mehrfache Nachfrage hat die Bahn diese Fragen nicht beantwortet. Stattdessen lässt die Zentrale die regionale Pressestelle in Leipzig am Dienstag in einer knappen Antwort mitteilen: „Die DB unterstützt die Ermittlungsbehörden nach Kräften bei der Beweissicherung, führt aber selbst keine Untersuchungen oder Befragungen durch. Zum aktuellen Stand der Ermittlungen können Sie sich gerne an die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung wenden.“

Doch auch das Eisenbahnbundesamt (EBA), dem offensichtlich Ermittlungsergebnisse vorliegen, äußert sich dazu nicht. „Seine Erkenntnisse zum Unfall hat das EBA inzwischen an die Bundespolizei sowie an die Unfallversicherung Bund und Bahn übermittelt“, hieß es zuletzt Ende Oktober.

Zu Schlussfolgerungen der Deutschen Bahn aus dem Unfall empfiehlt das EBA, „direkt das Unternehmen anzufragen“. Ansonsten hält sich die Behörde bedeckt und verweist auf die laufenden Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden.

Die Staatsanwaltschaft Dessau, der der Abschlussbericht der Bundespolizei vor einigen Wochen bereits einmal vorlag, war damit jedoch offenbar nicht zufrieden und schickte die Unterlagen zurück. Es musste also nachermittelt werden. Mitte November sollten die neuen Ergebnisse laut Bundespolizei vorliegen.

Unglück mit zwei toten Arbeitern: Warten auf den Abschlussbericht

Heute, zwei Wochen später, gibt es jedoch noch immer keine Auskünfte zur Unglücksursache. Nur so viel: Am Mittwoch sollte der überarbeitete Abschlussbericht erneut an die Staatsanwaltschaft gehen, versichert Chris Kurpiers, Sprecherin der Bundespolizei in Magdeburg.

Die Staatsanwaltschaft dagegen habe die Information aus Magdeburg bekommen, der Bericht werde erst „in ein oder zwei Wochen“ übersandt, sagt Frank Pieper, Sprecher der Dessauer Behörde. Damit wird es immer unwahrscheinlicher, dass Steffen Gommert und die anderen Hinterbliebenen noch vor dem Jahrestag des Unglücks am 10. Dezember erfahren, was zum Tod der Techniker geführt hat.

Steffen Gommerts Schwiegermutter, die nach dem tödlichen Unfall ihres Mannes schwer traumatisiert war und sich in stationäre psychiatrische Behandlung begeben musste, hofft nun mit Hilfe ihres Rechtsanwaltes Unterstützung von der Bahn zu bekommen. In seinem Schreiben an den Konzern vom 3. November kritisiert der Anwalt vor allem den Umgang mit den Hinterbliebenen.

Keine Unterstützung für Hinterbliebene

„Eine irgendwie geartete Kontaktaufnahme (...) hat seit dem Unglück durch Ihr Unternehmen nicht stattgefunden. Es gibt bis heute keine irgendwie geartete Unterstützung, sei es finanzieller Natur oder in Form der dringend notwendigen psychologischen Betreuung.“ Daher mahnt der Anwalt „kurzfristige Unterstützungs- und Kompensationsleistungen“ an. Der Bitte um eine Antwort bis zum 16. November ist die Deutsche Bahn bis heute nicht nachgekommen.

Seine Schwiegermutter sei bislang nicht an der Unglücksstelle in Bülzig gewesen, sagt Steffen Gommert. Wie seine Familie den 10. Dezember 2017 verbringen werde, sei noch unklar. „Wir werden meine Schwiegermutter an diesem Tag aber sicher nicht alleine lassen.“ (mz)

Der Unglücks-ICE auf dem Bahnhof in Zahna-Elster.
Der Unglücks-ICE auf dem Bahnhof in Zahna-Elster.
Jan Helmecke/Archiv
Die Bahnstrecke bei Bülzig. Hier passierte der ICE-Unfall
Die Bahnstrecke bei Bülzig. Hier passierte der ICE-Unfall
Thomas Klitzsch