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Initiative gegen Langzeitarbeitslosigkeit Initiative gegen Langzeitarbeitslosigkeit: Raus aus der Höhle

Von Marcel Duclaud 23.08.2019, 16:24
Petra Stolzenburg und Tochter Susann nutzen das Modellprojekt gesundheitliche Bildung.
Petra Stolzenburg und Tochter Susann nutzen das Modellprojekt gesundheitliche Bildung. Organisation/Albermann

Wittenberg - Manchmal hilft Theater weiter. In Wittenberg zum Beispiel, im Mehrgenerationenhaus. Dort hatten sich Ende vergangener Woche viele Menschen eingefunden, darunter eine Ministerin und ein hochrangiger Arbeitsagentur-Chef. Sie alle wollen über ein Modellprojekt reden, das ungewöhnlich ist, das Langzeitarbeitslosen helfen soll, rauszukommen aus dem Teufelskreis, aus dem „tiefen Loch“, das Petra Stolzenburg beschreibt.

Die Psyche leidet

Die Wittenbergerin war lange arbeitslos, über 20 Jahre. Nicht nur sie: auch ihr Mann, auch ihre Tochter. Die Psyche leidet, berichtet sie, man gehe kaum mehr aus dem Haus, traue sich nicht viel zu, fühle sich wertlos und abhängig. Tochter Susann spricht von Ängstlichkeit, Zurückgezogenheit, Unzufriedenheit. Dass sich die Situation der Familie grundlegend geändert hat, hängt auch mit dem Mehrgenerationenhaus und besagtem Modellprojekt zusammen.

Das gibt es in Sachsen-Anhalt seit 2017 an acht Standorten, Wittenberg ist einer. Es geht letztlich darum, den vielfältigen Problemen Langzeitarbeitsloser entgegen zu wirken - eben nicht nur durch berufliche Qualifikation, sondern auch durch gesundheitliche Bildung. Dass lange Zeiten ohne Job krank machen können, ist hinlänglich bekannt. Langzeitarbeitslose werden laut Untersuchungen öfter und länger stationär behandelt, nehmen mehr Medizin, die gesundheitlichen Einschränkungen erschweren es, Arbeit zu finden.

Hier setzt das Projekt an, das zahlreiche Partner hat: Arbeitsagenturen etwa, Job-Center, Krankenkassen, Projektträger wie das Mehrgenerationenhaus oder aber Ernährungsberaterin Nadja Gierth. Die Frau aus Bernburg ist ebenfalls nach Wittenberg gekommen, um über ihre Erfahrungen zu berichten. Sie bietet Kurse für Langzeitarbeitslose an, die fünf Wochen laufen.

Dass es zunächst Vertrauen aufzubauen gelte, sagt sie und dass viele der Arbeitslosen es verlernt hätten, Genuss zuzulassen. Nicht wenige würden gesunder Ernährung kaum Bedeutung beimessen und sich keine Zeit nehmen, Gerichte zuzubereiten - obwohl sie die Zeit haben. Kompetenzen gibt es, nur müssen sie „herausgekitzelt werden“, betont Nadja Gierth. Wichtig sei überdies, die Betroffenen anzunehmen wie sie sind.

Langzeitarbeitslose können über das Modellprojekt, das nach den Worten von Uwe Schröder, Vorstand der IKK gesund plus, in Sachsen-Anhalt ab 2020 ausgeweitet werden soll, verschiedene Kurse in Anspruch nehmen - in Sachen Gesundheit oder Ernährung. Es gibt aber auch die Möglichkeit des individuellen Coachings, um Motivation zu fördern, Eigeninitiative, Selbstwertgefühl. Die Finanzierung läuft über die Kassen, Mittel stehen über das 2015 verabschiedete Präventionsgesetz zur Verfügung.

Schub statt Belehrung

„Es braucht einen Schubs, keine Belehrung“, beschreibt Petra Grimm-Benne, Ministerin für Arbeit und Soziales, den Ansatz des Projektes. Es gehe darum, „Lust auf ein gesundes Leben zu machen“. Kay Senius, Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen der Agentur für Arbeit erklärt, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen zwar deutlich zurückgegangen sei, jene aber, die nach wie vor ohne Job sind, schwer zu vermitteln seien. „Die Probleme werden immer sichtbarer. Viele haben gesundheitliche Einschränkungen.“

In Sachsen-Anhalt kümmert sich die Landesvereinigung für Gesundheit um die Organisation. Mit über hundert Anbietern werde gearbeitet, berichtet Stefanie Stützer. Sie sagt auch, dass mehr Frauen als Männer sich einließen auf Gesundheits- und Präventionskurse. Wenn Männer allerdings einsteigen, dann bleiben sie meist dabei. Bei der Mehrzahl der Angebote handele es sich um Rückengesundheit, hoch im Kurs steht Wassergymnastik.

Ängste überwinden

Eher ungewöhnlich ist indes die Offerte des Mehrgenerationenhauses, via Theater den Langzeitarbeitslosen zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen. Markus Schuliers: „Die Leute verkriechen sich oft. Wir sagen ihnen: Kommt raus aus eurer Höhle. Ihr habt einen wichtigen Beitrag zu leisten für die Gesellschaft.“ Das sei ein erster Schritt zurück ins Berufsleben, ist er überzeugt.

Dass dieser Ansatz tatsächlich funktionieren kann, dafür stehen Petra und Susann Stolzenburg als Beispiel. „Ich hätte mir nie vorstellen können, mal auf einer Bühne zu stehen.“ Beide, Mutter und Tochter, traten auf die Bühne. Sie überwanden Ängste und ihre Skepsis, fanden Rückhalt in einem Team: „Das Miteinander ist wichtig, man traut sich wieder was.“ Susann Stolzenburg, die keinen Beruf hat, sagt von sich: „Ich bin sehr motiviert. Ich werde Fuß fassen.“

Die 34-Jährige denkt über eine Ausbildung nach. Für ihre Mutter kommt der neue Schwung ein bisschen spät. Sie ging nach einem Jahr als Bundesfreiwillige in Rente, ihr Mann aber hat wieder Arbeit gefunden. Nicht zuletzt das Klima in der Familie habe sich geändert, sagt Petra Stolzenburg: „Es ist ein ganz anderes Zusammenleben.“ (mz)