Chronistin in Radis Chronistin in Radis: Isabella Weber hat Ortswechsel nicht bereut

Radis - Die Augen leuchten, wenn Isabella Weber über ihre Arbeit spricht. Seit 16 Jahren führt die engagierte Frau mit Leidenschaft die Ortschronik des zu Kemberg gehörigen Dorfes Radis. Viel Interessantes, aber auch manch kuriose Begebenheit aus der Vergangenheit der zu ihrer Heimat gewordenen Ortschaft hat sie bereits zu Tage gefördert.
Dabei war ihr die Beschäftigung mit historischen Geschehnissen nicht in die Wiege gelegt worden. Geboren wurde Isabella Weber 1950 in Chemnitz, das kurz darauf in Karl-Marx-Stadt umbenannt wurde und heute wieder seinen ursprünglichen Namen trägt.
Dort besuchte sie die „Allgemeinbildende Polytechnische Oberschule“, die sie nach der zehnten Klasse erfolgreich beendete. Nach einer Lehre zum „Elektrozeichner für Starkstromanlagen“ führte sie ihr Weg zu einem Theologiestudium an die Universität in Leipzig. „Dort musste ich feststellen, dass es in der DDR nicht einfach war, Theologie zu studieren“, erinnert sie sich.
In Radis gibt es seit dem Herbst dieses Jahres jetzt ganz offiziell einen Planetenweg. Er ist der zweite seiner Art in Sachsen-Anhalt und einer von Dutzenden in ganz Deutschland. In der Dorfmitte war bereits im Sommer 1999 zum Deutschen Wandertag ein großer Stein zu Ehren Galles aufgestellt worden. In dessen unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich der Ausgangspunkt der Tour. Radis setzt mit dem gut viereinhalb Kilometer langen Weg der Erinnerung an Johann Gottfried Galle die Krone auf.
Der Astronom wurde 1812 im Heideort geboren. Vor 170 Jahren, am 23. September 1846, entdeckte er den Planeten Neptun. Berechnungen des Franzosen Urbain Le Verrier hatten die theoretischen Grundlage dafür geliefert.
Kurzerhand wechselte Isabella Weber an die „Lutherisch-theologische Fachschule“ nach Bad Freienwalde. Mit einem Abschluss in Kathechetik sowie einer Predigererlaubnis arbeitete sie bis zum Ende der 1980er Jahre in Schönebeck. „Dann habe ich ein Sabbat-Jahr eingelegt. Ich wollte erst einmal raus aus meiner beruflichen Tätigkeit und mich neu orientieren“, erzählt die vom christlichen Glauben geprägte Frau.
Bei ihrer Neuorientierung kamen ihr in Radis ansässige Freunde zu Hilfe, die sie davon überzeugten, in das Dorf am Rande der Dübener Heide zu ziehen. „Seit dem 1. Januar 2000 bin ich nun hier und habe diesen Schritt nicht bereut“, so Weber.
Die Ortsbürgermeisterin Evelin Erdmann war es, die die neu Hinzugezogene ermutigte, sich mit der Historie des Ortes zu beschäftigen und eine Chronik anzulegen. Seither hat Weber im Dorfgemeinschaftshaus ihr Domizil gefunden, um sich in historischen Dokumenten sowie im Internet auf Spurensuche zu begeben.
„Nach den ersten Recherchen habe ich realisiert, dass Radis eine Wahnsinns-Geschichte hat“, verrät die Verfasserin der Annalen der heute 1.300 Seelen beherbergenden Ansiedlung.
Zunächst hatten es ihr vor allem Persönlichkeiten angetan, die das Leben in dem Dorf beeinflussten und deren Namen weit über dessen Grenzen hinaus bekannt sind. Als Beispiele nennt sie Balthasar Geyer, der vor 57 Jahren in Radis als Pfarrer tätig war und dessen Dissertation 2015 in den USA veröffentlicht wurde.
Oder den Philosophen Wilhelm Traugott Krug, der 1813 als Rektor der Universität Leipzig fungierte und später zum Ehrenbürger dieser Stadt ernannt wurde. Nicht vergessen möchte Weber den 1812 in Radis geborenen Johann Gottfried Galle, den Entdecker des Neptun.
Über diese Männer sowie über Gertraud Möhwald, eine zu DDR-Zeiten herausragende Keramikerin, hat Isabella Weber eine lückenlose Biografie erstellt. Nachzulesen werden diese Lebensläufe in kleinen Broschüren sein, die zu Beginn des nächsten Jahres beim Augustinuswerk in Wittenberg in Druck gehen.
Derzeit beschäftigt sich die semiprofessionelle Historikerin mit der Geschichte des Gutshofes und dessen einstigen Besitzern. „Das ist eine Herausforderung. Ich muss noch Unterlagen darüber finden, wie man früher in solchen Häusern gelebt hat“, verrät Isabella Weber und fährt fort: „Die Familie derer von Bodenhausen, die in Radis ansässig war, hat vermutlich vom 16. Jahrhundert bis 1945 hier residiert“.
In diesem Zusammenhang verweist sie auf Luther, der wahrscheinlich auch in dem kleinen Dorf seine Spuren hinterlassen hat. 1528 soll er, gemeinsam mit Philipp Melanchthon, die Kirche des Ortes besucht haben. Der Überlieferung zufolge ist der Reformator im „Pabst-Haus“, ein Name, der dem Slawischen entspringt und soviel wie „Waldheide“ bedeutet, eingekehrt.
Das ihm dargebotene Bier war angeblich von solch schlechter Qualität, dass es Martin Luther mit den Worten „das soll der Papst saufen“ stehen ließ.
Diese und andere Erzählungen hat Isabella Weber aufgespürt. Wichtig ist ihr, die Ergebnisse ihrer Recherchen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Froh ist sie deshalb darüber, in einem Gebäude in der Bahnhofstraße 16 geeignete Räume für eine Ausstellung gefunden zu haben.
Auf Schautafeln werden dort eindrucksvoll die Resultate ihres Wirkens dargestellt. Für die Zukunft hat sich die engagierte Frau noch viel vorgenommen.
Ab dem Frühjahr 2017 möchte sie Einheimische und Gästen auf einer Wanderung entlang eines Lehrpfades vom Pabst-Haus zum Galle-Stein begleiten. Dieser Weg entspricht mit seiner Länge von 4,6 Kilometern im Maßstab von eins zu einer Milliarde der Entfernung von der Sonne bis zum Neptun.
„Unterwegs werde ich Quizfragen stellen. Am Galle-Stein sind vom Heimatverein gespendete Tafeln mit den Daten der einzelnen Planeten angebracht“, erklärt die Chronistin.
Ihr Dank gilt diesem Verein, aber auch allen Senioren des Dorfes, die sie mit Rat und Tat unterstützen. Besonders fühlt sie sich Ortsbürgermeisterin Evelin Erdmann verbunden, die ihr nach wie vor den Weg für ihre Recherchen ebnet.
„Mit der Stadt Kemberg habe ich einen Arbeitsvertrag über eine überschaubare Anzahl von Stunden. Darüber bin ich sehr froh. Trotzdem investiere ich viel Freizeit in meine Tätigkeit als Ortschronistin. Aber das macht Spaß und ich tue das gern“, resümiert Isabella Weber. (mz)