Landkreis Stendal Landkreis Stendal: Insel im Ausnahmezustand
INSEL/MZ. - Wer hätte das gedacht? Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) besucht den kleinen Altmark-Ort Insel. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht am Nachmittag. Dennoch bleiben die Landtagsabgeordneten an diesem Freitag auf ihrer Kundgebung für Menschenwürde weitgehend unter sich. Gleichwohl gibt es auch kritische Stimmen - wie vom früheren DDR-Bürgerrechtler Hans-Jochen Tschiche. "Das Ganze kommt ein Jahr zu spät." Jetzt seien die Fronten verhärtet. Es werde viel Kraft kosten, bis wieder Normalität im Dorf einziehe.
Großes Polizeiaufgebot
Der Tag ist alles andere als normal. Und das will etwas heißen für die Menschen in Insel. Seit vor rund einem Jahr der Streit um die beiden aus der Sicherungsverwahrung entlassenen Sexualstraftäter ausgebrochen ist, sind die Einwohner einiges gewöhnt. Immer wieder Demonstrationen, Polizei- und Medienpräsenz - das kennen die 475 Einwohner. Doch dieser Freitag bleibt ihnen im Gedächtnis. "Hier herrscht Ausnahmezustand", sagt ein Mann, der das Treiben vom Fenster seines Backsteinhauses aus beobachtet. Fast 40 Polizeiwagen, mehrere Fernsehstationen, die Busse mit den Abgeordneten - "alles ein bissel zu viel", sagt ein junger Arbeiter aus Stendal. Sein Freund aber meint: "Ein Ausnahmezustand für eine gute Sache."
Dabei beginnt der Tag fast beschaulich. Der Schulbus holt die Kinder zum Unterricht ab. Frauen zupfen Unkraut in den Vorgärten. Die Wege auf dem Friedhof werden geharkt. Und auf einem Feld werden Erdbeeren gepflückt. Wer dort arbeitet, bemerkt die Veränderungen zuerst: Die Polizei bezieht Posten an den Ortseinfahrten. Später rückt Verstärkung an, zunächst im Umfeld des Hauses der beiden Sexualstraftäter, später im ganzen Ort. An mehreren Stellen stehen Gitter bereit für Absperrungen.
Manchem Einwohner ist nicht wohl dabei. Mehr und mehr erstirbt das Leben auf der Straße. Die ersten Journalisten, die eintreffen, finden keine Gesprächspartner. Kinder, die aus der Schule kommen, werden von den Eltern rasch in die Höfe beordert - dann heißt es: Tür zu. Eine Frau erklärt: "Wir wollen nur noch unsere Ruhe haben." Man schäme sich, wenn man in der Umgebung erzähle, man wohne in Insel. Oft bekomme man sogar zu hören, das sei ein Nazi-Dorf. Der Grund dafür: Rechtsextreme hatten sich mehrfach an den Protesten gegen die beiden Männer beteiligt - zuletzt am vergangenen Wochenende, als Einwohner und Rechte mehrfach versucht hatten, das Haus der beiden Männer zu stürmen. Aufatmen daher dann allseits, als am Nachmittag bekannt wird: Die angekündigte Demo der NPD bleibt verboten.
Tschiche ist derweil im Dorf unterwegs. Jedem, der es hören will, erzählt er von seinen Begegnungen mit den Ex-Straftätern. Er habe ihr Ehrenwort, dass sie nach Recht und Gesetz leben wollen. Und bisher haben sich die Männer an alle Auflagen gehalten. Tschiche tritt aktiv für den Verbleib der Männer im Dorf ein. Das sei eine prinzipielle Frage, genau so wie es Ministerpräsident Haseloff in die Mikrophone spricht: "Die Menschenwürde ist unteilbar."
Eine Frau, die abseits steht und die Kundgebung verfolgt, sagt: "Da wohne ich nur einen Katzensprung von dem Haus der Männer entfernt, aber gesehen habe ich sie noch nie - völlig unauffällig." Einzelheiten weiß dagegen eine junge Frau, die als Botin unterwegs ist. "Der eine Mann joggt, der andere trägt einen weißen Rauschebart." Dann schiebt sie ihren Kinderwagen weiter. Angst? Nein, die habe sie nicht.
Die Angst wohnt mit
Damit spricht sie aber nur für einen Teil der Bürger. In anderen Häusern scheint die Angst geradezu mitzuwohnen. So stehen in einem Vorgarten ordentlich gekleidete Strohpuppen, als würden sie protestieren. Eine Figur trägt das Schild: Wer denkt an die Opfer? An einem anderen Hoftor steht mit krakeliger Schrift: Insel ist kein Auffanglager für Sextäter. Als kurz vor 18 Uhr Uhr die Abgeordneten eintreffen, verteilen junge Leute aus dem linken Lager Flugblätter. Kurz nach Beginn der Kundgebung wird ein Spruchband mit dem Konterfei des Innenministers entrollt, das ihn einem imaginären Volksmob zuordnet. Polizisten drängen die Gruppe ab. Zeitgleich hat Ortsbürgermeister Alexander von Bismarck (CDU) die Einwohner auf sein Anwesen eingeladen. "Grillfest", nennt es einer. Der von der Politik gewünschte Dialog fällt so erst einmal ins Wasser. Eva von Angern, Abgeordnete der Linken, spricht von einem "totalen Affront gegen das Landesparlament". Die Polizei registrierte dieses Transparent und nahm Kontakt mit dem Innenminister auf, der unmittelbar daraufhin Strafantrag wegen Beleidigung stellte.
Die Polizei forderte, die Transparentträger in deeskalierender Weise auf, das Transparent zu falten. Dem kamen die Demonstranten jedoch nicht nach und wurden in ihrem Widerstand, der Aufforderung der Polizei nachzukommen, von einem Landtagsabgeordneten bestärkt. Daraufhin wurden die Transparentträger aufgefordert, sich an den Rand der Demonstration zu begeben, dem sie ebenfalls nicht nachkamen, und wurden so mit einfachem Wegdrücken an die gegenüberliegende Straßenseite geschoben. Das weitere Hochhalten des Transparentes wurde seitens der Polizei aus Deeskalations- und Verhältnismäßigkeitsgründen toleriert. In der Folge wurden alle Personalien der Transparentträger festgestellt und ein Strafverfahren wegen Beleidigung eingeleitet.
Nach der Kundgebung sind die Meinungen geteilt. Einige wenige Menschen zeigen sich enttäuscht. "Wir kennen die Verfassung und brauchen keine Belehrung", sagte ein Handwerker. Andere sind nachdenklich geworden und begeben sich mit zu einer Andacht in die Dorfkirche.