Schutz vor Vandalismus Schutz vor Vandalismus: Verein aus dem Harz will seltenes Gotteshaus versetzen

Wie es einmal auf der Wiese im Herzen des Harz-Örtchens Stiege aussehen soll, weiß Mathias Wenzel schon genau. „Hier wird die Eingangstür zur Kirche sein“, erklärt der 51-Jährige und zeichnet mit seinen Händen das Portal in die Luft, um es anschließend gleich zu durchschreiten. Wenzel zeigt, wo der Altarraum sein soll und wo sich die Kanzel befinden wird. Für den Beobachter ist es wie architektonisches Trockenschwimmen. Doch in Wenzels Vorstellung steht alles schon. Auch ein Baugrundgutachten und einen Pachtvertrag gibt es bereits - „unbefristet“, wie Wenzel betont.
Stabkirche soll umziehen: Lastwagen, Bahn oder Hubschrauber?
Fehlt eigentlich nur noch eines: Die Kirche. Doch damit beginnt die Herausforderung erst. Denn das Gotteshaus, das in Stiege stehen soll, wird nicht neu gebaut. Es existiert bereits. Und Mathias Wenzel hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Kirche umziehen zu lassen. Er ist im Vorstand eines Vereins, der sich diesem verrückten Plan verschrieben hat.
„Derzeit prüfen wir noch, wie die Umsetzung genau erfolgen kann“, sagt der Familienvater. Das sei natürlich auch eine Frage des Geldes. In der Verlosung sind derzeit Lastwagen, Bahn und auch Hubschrauber. „Vielleicht kommt sogar ein Lasten-Helikopter der Bundeswehr zum Einsatz.“ Das sei durchaus eine Option.
Stabkirche aus Stiege: baugeschichtlich eine Rarität
Ortswechsel: Sieben Kilometer von der Wiese entfernt, im dichten Oberharzer Mischwald, steht die Kirche, die umziehen soll. Sie sieht wie ein verwunschenes Hexen-Haus aus Baba Jagas Reich aus. „Baugeschichtlich ist das eine absolute Rarität“, sagt Mathias Wenzel. Bei dem Gebetshaus handle es sich um eine Stabkirche - eigentlich eine skandinavische Spezialität. Die Kirchen sind komplett aus Holz und werden von einer Stab-Konstruktion gehalten. Mit der Nordlandbegeisterung Ende des 19. Jahrhunderts kam der Baustil nach Deutschland - allerdings wurden nur drei Kirchen dieser Art gebaut. Eine steht im Wald in Stiege.
Allerdings ist der seltene Bau in Gefahr. Deutlich sichtbar haben Witterung und Vandalismus ihre Spuren hinterlassen: Von der Fassade blättert die Farbe ab, fast alle Fensterscheiben sind eingeworfen und die Wände wurden mit Hammer, Stemmeisen und sogar einer Kettensäge malträtiert - wahrscheinlich von Metalldieben, die sich im Inneren der Kirche Schätze erhofften.
Damit der Holzbau nicht weiter zerstört wird, soll er nach Stiege umziehen. „In der Abgeschiedenheit des Waldes können wir uns nicht um die Kirche kümmern“, meint Mathias Wenzel und prophezeit dann: „Wenn wir nicht schnell etwas tun, dann sieht es bald wie da drüben aus.“ Er deutet auf einen Häuserkomplex, der gegenüber der Kirche liegt. Dort erhebt sich eine Brandruine: das Albrechtshaus. Es wurde 1896 als Sanatorium für Tuberkulosekranke errichtet. In der Abgeschiedenheit des Harzes und durch die gute Gebirgsluft sollten die Verseuchten von der ansteckenden Lungenkrankheit kuriert werden. 1905 bekam die Heilanstalt eine Kapelle. Die Stabkirche wurde von einem Patienten aus Skandinavien gestiftet - so sagt es die Legende.
Zu viele Gefahren: Die Kirche muss weg
Das Albrechtshaus blieb bis kurz nach der Wende eine Heilanstalt, zuletzt für Herz- und Lungenkranke. Dann wollte eine große Hotelkette ein Wellness-Ressort daraus machen. Die Pläne scheiterten. Seit Mitte der 90er Jahre steht die Anlage leer und verfällt - und mit ihr auch die Kirche.
In die Schlagzeilen kam der Gebäudekomplex erst 2013 wieder, als dort ein Großfeuer wütete. „Wäre ein Funken auf die Holzkirche übergesprungen, dann hätte die Feuerwehr nur noch die Asche aufkehren können“, meint Mathias Wenzel. Damals sei ihm und seinen Mitstreitern klar geworden, dass sie etwas tun müssen. Sie gründeten ihren Verein und fassten den verrückten Plan: Die Kirche muss weg.
Es kommt nicht oft vor, dass ganze Gebäude versetzt werden. Wenn zu dieser Maßnahme gegriffen wird, handelt es sich meistens um Baudenkmäler - so wie im Fall der Stabkirche Stiege. An ihrem jetzigen Standort würde sie verfallen, deswegen soll sie umziehen. Im Fachjargon spricht man von einer „Translozierung“. Damit ist gemeint, dass die Kirche an ihrem ursprünglichen Ort abgebaut und an neuer Stelle möglichst originalgetreu wieder aufgebaut wird. Im Fall der Stabkirche ist das ein Unterfangen von beträchtlichem Umfang: Geschätzte 50 Tonnen ist der Holzbau schwer, der aus tausenden Balken und Bohlen besteht.
Doch natürlich geht es noch größer. 2007 musste das sächsische Örtchen Heuersdorf dem Braunkohletagebau weichen. Auch die Kirche wurde umgesiedelt. Und dieser Umzug hatte fast biblische Ausmaße: 1.000 Tonnen ist die Emmauskirche schwer. Sieben Tage dauerte die Versetzung ins benachbarte Borna, die ohne größere Schäden glückte. Da die Kirche im Ganzen transportiert wurde, handel es sich streng genommen nicht um eine Translozierung, sondern eine Gebäudeversetzung.
Solche Umsiedlungen haben eine gewisse Tradition. Einige Beispiele: 1851 wurde in London ein mehrere Meter hoher Marmorbogen versetzt. In Ebingen (Baden-Württemberg) verschob man 1907 eine Villa auf die andere Straßenseite. Und 1953 wurde in Bielefeld (NRW) das 15 Meter hohe Gartenhaus transloziert. Ab 1964 mussten zwei Tempel dem Bau des Assuan-Staudamms in Ägypten weichen und 1996 wurde in Berlin ein Hotelsaal um 75 Meter verschoben - für etwa eine Million Mark pro Meter.
Warum den Umzugs-Aktivisten das Gotteshaus im Wald so wichtig ist, versteht man wohl erst, wenn man es betritt. Drinnen ist alles aus Holz. Es riecht nach Wald. Im wenigen Licht, das durch die vergitterten Fenster dringt, erkennt man Altar und Kanzel. Von der Decke hängen zwei gusseiserne Leuchter. Und über allem schweben die Drachen. Zwölf Köpfe der Fabelwesen schauen grimmig in den Gebetsraum - äußerst unüblich für eine christliche Kirche. Allein deswegen sei das Gotteshaus schon besonders. „Das ist ein echtes Schmuckstück“, sagt Wenzel.
Allerdings gehört das Kleinod im Wald bisher noch nicht dem Verein, der bereits auf beachtliche 78 Mitglieder angewachsen ist. „Gerade arbeiten wir am Überschreibungsvertrag“, erzählt Wenzel. Der Besitzer, ein Frankfurter Immobilienunternehmen, habe aber bereits signalisiert, die Kirche abgeben zu wollen.
Nun fehlt dem sakralen Umzugsunternehmen nur noch das Geld. Abbau, Transport und Wiederaufbau der Kirche kosten etwa eine halbe Million Euro - das haben drei Machbarkeitsstudien ergeben. Eine mächtige Summe, zumal der Verein bisher nur etwas mehr als 30 000 Euro gesammelt hat. Doch Mathias Wenzel ist keinesfalls bange: „Es gibt viele Stiftungen und Fördermittelgeber, die für unser Projekt in Frage kommen“, meint der 51-Jährige selbstsicher. Das nächste Jahr werde deswegen vor allem mit dem Schreiben von Anträgen verbracht, denn der Zeitplan ist knapp: Spätestens 2020, so sagt es Mathias Wenzel, soll die Kirche vom Wald auf die Wiese umgezogen sein.
