500 Arbeitsschritte Polizeirevier Halberstadt: Sylvia Krause fertigt nach Beschreibungen von Opfern und Zeugen Phantombilder an

Der ist älter“, sagt Sylvia Krause, da hat sie das Porträt noch gar nicht ganz aus dem Umschlag gezogen. Sie sieht den darauf abgebildeten Mann zum ersten Mal. Bisher habe ich ihn ihr nur beschrieben.
Die 58-jährige Halberstädterin hat aus meinen zum Teil schwammigen Angaben ein Bild zusammengesetzt, ein Phantombild. Das vergleicht sie nun mit dem mitgebrachten Foto, bescheinigt mir, den Typ getroffen zu haben, konstatiert aber: „Die Haare haben Sie voll verhauen.“
Nicht der einzige Patzer. Dabei habe ich den Leuten, die sonst auf dem Zeugenstuhl Platz nehmen, etwas voraus: Ich kenne den, den ich hier beschreibe. Und mir ist nichts widerfahren, ich bin weder in einer Stresssituation, noch habe ich ein traumatisches Erlebnis hinter mir - wie so manches Opfer.
Sylvia Krause kam Anfang er 1990er Jahre zur Polizei
Krause ist Phantombild-Erstellerin im Polizeirevier Harz in Halberstadt, keine Polizistin, Verwaltungsangestellte. Als sie Anfang der 90er Jahre zur Polizei kam, war sie über 30 - damals zu alt, um noch eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen.
Anfangs zuständig für die Aktenhaltung - „da hatte ich auch schon mit Gesichtern zu tun“ -, holte sie sich ein paar Jahre später das nötige Handwerkszeug, um Phantombilder anfertigen zu können.
Bleistift und Papier haben schon lange ausgedient
Als die Phantombildzeichnerei im 19. Jahrhundert aufkam, wurden Maler beauftragt. Doch Bleistift und Papier haben schon lange ausgedient. Man müsse kein großer Künstler sein, aber über eine gewisse künstlerische Begabung verfügen, sagt Krause.
Ihre Arbeit erledigt sie am Computer, nutzt dazu ein von Phantombildzeichnern und Kriminaltechnikern entwickeltes Programm, das „Facette“ heißt. Es funktioniert nach dem Baukastenprinzip, zur Auswahl stehen Tausende gezeichnete und Fotoelemente, die beliebig kombiniert, in der Größe verändert und mit Stift auf dem Zeichenpad manuell bearbeitet werden können.
Krause will wissen, unter welchen Lichtverhältnissen und aus welcher Entfernung ich den Mann gesehen habe, Größe, Statur, Haar- und Augenfarbe, … Besagter Mann ist mein Kollege, Ingo Kugenbuch.
Bei der Gesichtsformen bin ich überfragt: Rund? Oval? Länglich?
Seit zweieinhalb Jahren steht mein Schreibtisch neben seinem. Ich sehe ihn acht Stunden am Tag. Er gehört definitiv zu den Vordersten meiner 5.000. So viele Gesichter kennt jeder Mensch im Durchschnitt, haben Wissenschaftler von der Universität York in Großbritannien ermittelt.
Und trotzdem bin ich überfragt, als Krause mit den Gesichtsformen um die Ecke kommt. Rund? Oval? Länglich? Breit? Kantig? Puh … Das Bild, das ich von meinem Kollegen im Kopf habe, verschwimmt vor meinem geistigen Auge.
160 Formen für „eher länglich, nicht zu kantig”
Obwohl ich eingrenze - eher länglich, nicht zu kantig - stehen noch 160 Formen zur Auswahl. Alle paar Sekunden erscheint eine andere. Ich tue mich schwer damit, mich festzulegen, bleibe im Konjunktiv - könnte hinkommen.
„Wir arbeiten das jetzt von oben nach unten ab“, erklärt Krause, ohne zu ahnen, dass sie mich damit in eine Ansatzkrise stürzt. Wo hört die Stirn auf? Wo fängt das Haar an? Fülle ist da nicht. Wie aber beschreiben, was nicht da st?
Krause vermag mich zu beruhigen. „Viele stellen sich das einfacher vor“, sagt sie. Und nur, weil man jemanden auf der Straße wiedererkennen würde, heiße das nicht, das man ihn fotorealistisch beschreiben könne. „Die Wahrnehmung funktioniert bei jedem anders“, sei geprägt von subjektiven Empfindungen.
Verschiedene Zeugen liefern mitunter andere Bilder
Das kann dazu führen, dass ein Täter von verschiedenen Zeugen unterschiedlich beschrieben wird. Krause nennt als Beispiel den Raubmörder, den die Neue Presse Hannover als „Phantom mit vielen Gesichtern“ betitelte
Sie hat aber auch schon das Gegenteil erlebt: Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr ein Vergewaltigungsopfer. Die Frau war am Morgen nach der Tat in der Lage, ihren Peiniger so detailliert zu beschreiben, dass das Phantombild einem Foto gleichkam.
„Mittags hatten sie den Täter“, erzählt Krause. Ihren Angaben nach wird ein Viertel derer, nach denen mit Phantombild gefahndet wird, identifiziert. Dazu bedarf es keiner Fotoqualität: „Ein Phantombild ist kein Foto“, betont sie. Es gehe darum, wesentliche Merkmale, Markantes wiederzugeben, das, was die Person zu der mache, die sie sei. Darauf sollte man achten.
Ein Viertel der mit Phantombild Gesuchten werden identifiziert
Der Stirn meines Kollegen habe ich zwischenzeitlich ein paar Fältchen verpassen lassen. Ich bin jetzt bei den Augen, und entscheide mich im Pool aus hellen und dunklen, schmalen, mandelförmigen, schräg liegenden, zusammengekniffenen, weit aufgerissenen, tief liegenden und vorspringenden ungewohnt schnell.
„Schnitt!“ Krause hinterfragt hier nicht - so wie auch Günther Jauch bei der Antwort auf die 100-Euro-Frage. Bei Augenbrauen, Brille und Ohren dasselbe. Die aussagekräftigsten Bilder entstünden in einer halben bis Stunde und kurz nach der Tat; später würden die Erinnerungen verblassen, sagt sie.
Früher wurden bis 120 Phantombilder jährlich gefertigt
Früher, als auch die personelle Situation eine andere war, fertigten Krause und ihre Kollegen rund 120 Bilder im Jahr an; heute wird nach nicht mal mehr einem Dutzend Tätern mit Phantombild gefahndet. Von den meisten der auf der Internetseite der Polizeidirektion Nord, zu der das Revier im Harz gehört, zur Fahndung ausgeschriebenen Personen liegen Fotos vor - Handyfotos oder Bilder aus Überwachungskameras.
Ob ein Phantombild benötigt wird, entscheidet der Fall
Was alle Abbildungen - Fotos und Phantombilder - eint: Sie dürfen nur unter bestimmten Voraussetzungen veröffentlicht werden - nach richterlichem Beschluss. Ob ein Phantombild benötigt wird, entscheidet sich von Fall zu Fall, ist auch von den Zeugen abhängig. Manchmal, sagt Krause, müsse sie abbrechen, wenn die Erinnerungen zu lückenhaft seien, partout kein Bild zustande komme.
Dann passiert, was behördlich korrekt „Zeugeneinsichtnahme mittels Lichtbildvorzeigedatei“ heißt. „Wir legen Bilder vor, das ist einfacher“, sagt Krause, die auch die erkennungsdienstlichen Behandlungen vornimmt.
Wie sehen die Lippen aus? Schmal? Wulstig? Offen?
Angekommen beim Mund, ist mein Lauf zu Ende. Ich kann das prägnanteste Merkmal meines Kollegen - die Lücke zwischen den vorderen Schneidezähnen nicht unterbringen. Täter lachen einfach zu selten. Befragt zur Beschaffenheit der Lippen, rutscht mir ein „normal“ heraus.
Krause verdreht die Augen. Wie oft sie das schon gehört habe … „Aber was ist normal?“, fragt sie. Schmal? Wulstig? Herzförmig? Offen? Schief? Nach oben oder unten gerichtete Mundwinkel? 20 Minuten später - ich habe nach einigem Hin und Her gleich drei Bart-Vorlagen gewählt - ist das Bild fertig.
Eine Frontalansicht in Schwarz-Weiß. Wobei die Technik weiter sei, erzählt Krause von einem neuen Verfahren. Das ermöglicht es, dreidimensionale Phantombilder darzustellen, die aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden können. Vor einem Jahr war ein solches Bild erstmals bei „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ zu sehen.
Rund 500 Arbeitsschritte stecken in einem Phantombild
Ich kann den Aufwand nur erahnen. Allein in der 2D-Ansicht stecken an die 500 Arbeitsschritte. Manchmal reicht ein Klick, um aus einer eine ganz andere Person zu machen, dann etwa, wenn man das lange gegen ein rundes Gesicht austauscht.
Aber Gesichtsform hin, Haare her - Krause geht davon aus, dass das von mir beschriebene Phantombild zu dem einen oder anderen Hinweis führen würde, wäre es echt. Die Augenpartie sei gelungen, sagt sie. Nur den Haaransatz, den frisiert die Phantombild-Erstellerin noch mal nach.
Vereine oder Interessengemeinschaften, die in einem Vortrag mehr erfahren wollen, können sich bei der Polizei unter 03941/67 41 64 melden.