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Judo Judo: Verbeugung vor einer Legende der Tatami

Von MATTHIAS BARTL 18.10.2010, 17:08

KÖTHEN-KLEPZIG/MZ. - "Er war ja ein Bär", erinnert sich Herwart Ahrend, und Manfred Naumann nickt. Der "Klumpatsch", wie die beiden Männer aus Drosa heute noch ihren alten Schul- und Straßenkumpel Herbert Niemann nennen, hatte im Ort viele Freunde, machte viele Streiche mit - und damit lebt er auch im Gedächtnis des Ortes fort.

Die Betonung liegt auf "auch". Denn natürlich geht es zunächst einmal um Judo, wenn man an Herbert Niemann denkt. Es geht um den ersten Judoka von Weltklasse, den die DDR hervorbrachte. Und es geht um einen Mann, der nach dem Ruhm in Probleme und ins Abseits geriet und den Freitod wählte. Seit Sonnabend trägt die Trainingsstätte der Köthener PSV-Judoka, der Dojo, wie die Fachleute sagen, den Namen "Herbert Niemann".

Jürgen Kümpfel, seit über 30 Jahren Judo-Abteilungsleiter beim PSV Köthen, hatte schon zu DDR-Zeiten Herbert Niemann nach Köthen holen wollen. Ein Vorhaben, das ihm mehr oder weniger deutlich untersagt wurde - Niemann war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr mit der DDR im Reinen, hatte gar einen Ausreiseantrag gestellt. Die Idee, den inzwischen verstorbenen Niemann dadurch zu ehren, dass man die Trainingsstätte der Köthener Judokas nach ihm benennen würde, kam Kümpfel im Jahr 2007. An einem weit von Köthen, Klepzig und Drosa entfernten Ort: in Sao Paulo, wo Kümpfel bei den Weltmeisterschaften der Judo-Masters antrat und wo er einen Berliner Judoka traf, mit dem er über Niemann ins Gespräch kam. "Mich hat sehr getroffen, wie Niemann gestorben ist und dass es so früh war - ich dachte mir, dass man so einen Sportler nicht vergessen dürfe."

Wieder zurück in Deutschland, begann sich Kümpfel um das Vorhaben zu kümmern - und im Frühsommer dieses Jahres hatte er dann alle Puzzleteile soweit zusammen, um die letzten Schritte zu gehen. Kümpfel beantragte die Namensgebung bei der Stadt, trat im Stadtrat mit seinem Wunsch auf, sprach mit der Verwaltung. "Wir trainieren in einer städtischen Liegenschaft, daher wollte ich sichergehen und habe mir die Zustimmung geholt", erklärt er die bürokratischen Werdegänge.

Der Tag, an dem nun die vom Steinmetzgeschäft Scholz gestiftete Gedenktafel enthüllt wurde, war gleichzeitig als Tag konzipiert, an dem sich die Judo-Abteilung der Öffentlichkeit präsentierte. Zum Beispiel mit Vorführungen, bei denen die Judo-Knirpse Würfe und Festhalten zeigten. Zum Beispiel mit einer Bilanz der Arbeit, die Kümpfel in seine Erläuterungen immer wieder einzustreuen verstand. Die Abteilung habe seit ihrem Bestehen nicht einen Tag in roten Zahlen gesteckt, man habe immer mit Augenmaß gearbeitet und es trotzdem geschafft, sowohl Judokas mit Potential für die Spitzenklasse hervorzubringen als auch den Breitensport gut am Leben zu erhalten.

"Wir haben derzeit rund 70 Mitglieder", so Kümpfel zur MZ. "Davon sind ungefähr zwei Drittel Kinder und Jugendliche." Man habe zwar auch einige Fluktuation, wie sie andere Vereine auch kennen, zum Teil seien diese Wechsel aber auch bewusst hausgemacht. "Wir haben vor einiger Zeit eingeführt, dass man bei uns einen Monat lang kostenfrei mitmachen kann. Da kommen natürlich viele, die sich die Sache mal ansehen wollen und nach einige Wochen wieder das Handtuch werfen, weil Judosport vielleicht doch nichts für sie ist."

Das alles bedingt eine umfangreiche ehrenamtliche Vorstandsarbeit. Neben Kümpfel arbeiten hier Hagen Dolge, Steffen Kühnhold und Dieter Wiemann mit. In die Vorbereitung der Niemann-Ehrung waren aber noch viele mehr mit eingebunden - teilweise für Spezialaufgaben. Juliane Wendt zum Beispiel machte die Torte, die allseits für Interesse sorgte, weil sie einer Tatami, also einer Judomatte nachgebildet war, auf der zwei Judokas im Bodenkampf gezeigt wurden.

Franz Janouschek wiederum war für die Laudatio auf Herbert "Jimmy" Niemann zuständig. Eine passende Wahl, denn der Köthener Janouschek hat beim ASK Vorwärts Berlin Niemann noch als aktiven Sportler und anschließend als Übungsleiter erlebt. Niemann wurde am 12. Dezember 1935 im Bernburger Krankenhaus geboren und

wuchs in Drosa auf. In der Firma Nicklisch lernte er den Beruf eines Stellmachers. 1962 wurde er der erste Europameister der DDR im Judo. Janouschek erinnerte sich daran, wie er 1964 die Kämpfe erlebt hatte. Vor dem Fernseher, denn damals wurde Judo zum ersten Mal richtig übertragen. Er sah, wie Niemann im Finale den Georgier Parnaos Tschikwiladse in 15 Minuten durch seine sagenhafte Kondition mürbe machte, Wertung um Wertung einsammelte und am Ende haushoch gewann. "Diese Fernsehbilder werde ich nie vergessen", sagte Janouschek. "So wollte ich auch werden." Nach diesem grandiosen Sieg war es umso tragischer, dass später im Jahr, bei den Olympischen Spielen, der favorisierte DDR-Judoka aus Verletzungsgründen nicht im Vollbesitz seiner Kräfte war und gegen Gegner verlor, die er vorher klar beherrscht hatte. Viermal wurde Niemann Europameister. 1966 beendete er seine sportliche Laufbahn. "Mit der neuen Zeit ist er nicht fertig geworden", sagte Janouschek.

Für die PSV-Judoka stehen aber die sportlichen Meriten Niemanns im Fokus der Betrachtung. Für die die beiden alten Herren aus Drosa auch viel Hochachtung übrig haben - mehr noch aber für den alten Freund Herbert Niemann, der mit seiner alten Heimat immer Verbindung gehalten hat, auch als er schon in Berlin wohnte und eine lebende Legende war. "Er ist oft nach Drosa zum Sportvergnügen gekommen und hat Vorführungen gemacht", erinnert sich "Männi" Naumann. Und Herwart Ahrend kennt Niemann noch aus den Zeiten, als dessen Großeltern bei Ahrends in der Landwirtschaft arbeiteten. "Das waren tüchtige Leute, aber der Alte war auch streng. Der hat uns richtig Ordnung beigebracht", sagt Herwart Ahrend. Niemann, der den Spitznamen "Klumpatsch" hatte, weil er so groß und gutmütig war, hatte keine leichte Kindheit - und war vielleicht deswegen umso mehr ein Mensch, der auf Freunde und Geselligkeit Wert legte. "Es war immer eine Sensation, wenn Klumpatsch kam", sagt Herwart Ahrend. Einmal habe Niemann gezeigt, dass er auch in seinen Kaumuskeln Kraft hatte. "Er hat in der Kneipe in einen großen Stammtisch gebissen und hat den Tisch dann mit dem Gebiss hochgehoben - er hat nur die Daumen gegen die Tischbeine gedrückt, damit die Tischplatte grade lag." Eine wahre Geschichte, wie Ortsbürgermeister Axel Lingner beteuert: Als die Kneipe 1990 aufgelöst wurde, habe man den Tisch gerettet und heute stehe er im Naherholungszentrum. Niemanns Bissabdruck soll man heute noch sehen.