Das klingende Erbe der Nazis Hakenkreuz im Kirchturm - Was wird aus Kirchenglocken mit NS-Symbolen?

Gossa - Seit fast 85 Jahren hat die Glocke zuverlässig ihren Dienst verrichtet. Sie hat geläutet, an hohen Feiertagen wie im Alltag. Jahr für Jahr. Monat für Monat. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Doch nun ist sie verstummt, zum Schweigen gebracht durch einen Beschluss des Gemeindekirchenrates in Gossa, 500 Einwohner, Kreis Anhalt-Bitterfeld. Die Glocke trägt ein Zeichen, das für die dunkelste Zeit Deutschlands steht.
Wer das Zeichen mit eigenen Augen sehen will, muss sich in die Kirche des Ortes begeben. Es geht 28 Stufen hinauf in den kleinen Turm, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Über Holzkonstruktionen, die mehr Leiter sind als Treppe, so steil sind sie. Es ist staubig, es ist eng, vor der ersten Stufe liegt der Rest des Weihnachtsbaums vom Vorjahr. Am Ende der Stufen wartet die Glocke, die größere von beiden. Das Zeichen, aufgeprägt, vielleicht sechs Zentimeter im Quadrat, ist kaum zu sehen im Halbdunkel: ein Hakenkreuz.
Die Gossaer Glocke ist eine von neun in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, die Symbole oder Inschriften aus der Nazizeit tragen. Mal sind es Hakenkreuze, mal Hitler-Bilder oder Huldigungen an den Diktator.
Gossaer Glocke wurde 1934 gegossen
Die Gossaer Glocke trägt auch noch ein Eisernes Kreuz. Sie kam 1934 in die Christophoruskirche aus dem 13. Jahrhundert, als Ersatz für eine Vorgängerin, die 1917 eingeschmolzen worden war. Im Ersten Weltkrieg brauchte das Reich Waffen dringender als Glocken.
Über Jahrzehnte interessierte es niemanden in Gossa, was es mit der Glocke aus den 1930er-Jahren auf sich hat. Weder im sozialistischen noch im wiedervereinigten Deutschland. „Das ist einfach in Vergessenheit geraten“, sagt Sylke Born. Sie sitzt im Gemeindekirchenrat, dem Entscheidungsgremium der Kirchgemeinde.
Hakenkreuze in Kirchenglocken - In der Landeskirche rumort es
Es muss 2005 oder 2006 gewesen sein, als Albrecht Henning von dem Hakenkreuz erfuhr. Der Glockenstuhl musste saniert werden, „ich war mit oben und hab’ mir das mal angeschaut, da hab’ ich es gesehen.“ Konsequenzen? Keine, räumt der Gossaer Pfarrer selbstkritisch ein: „Ich habe damals keinen Grund zum Handeln gesehen.“ Henning, 51, erzählte in der Gemeinde davon. In einer Broschüre von 2016 über die Kirche ist die Rede von „zeittypischer nationalsozialistischer Inschrift und Symbolik“ auf der Glocke. Das war es dann.
Glocken mit NS-Bezug sind in Deutschland damals noch kein Thema. Das ändert sich erst im Mai 2017 mit der Herxheimer „Hitler-Glocke“.
Die Gossaer Hakenkreuz-Glocke ist eine von neun mit Symbolen oder Inschriften aus der NS-Zeit im Gebiet der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Eine weitere in Sachsen-Anhalt befindet sich nach Angaben der Landeskirche in Neinstedt (Harz). Wie viele derartige Glocken bundesweit noch in Kirchtürmen hängen, ist unbekannt. Der „Spiegel“ berichtete im vorigen Jahr von rund zwei Dutzend Exemplaren. Es gibt aber keine zentrale Erfassung.
Die Debatte um die Nazi-Glocken begann im Mai 2017. Damals wurde der Ort Herxheim in der Pfalz schlagartig bundesweit bekannt, als eine pensionierte Lehrerin auf die Inschrift der Glocke im Turm der Herxheimer Jacobskirche hinwies: „Alles fuer’s Vaterland - Adolf Hitler“, darüber ein großes Hakenkreuz. In der Folge diskutierten Kirchgemeinden landauf, landab über Nazi-Glocken.
Die umstrittene Herxheimer Glocke stammt wie die in Gossa aus dem Jahr 1934. Sie hängt nach wie vor im Kirchturm. Eine Mahntafel ordnet den historischen Hintergrund ein.
In der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland rumort es Anfang des Jahres. Ein Mann aus dem Saarland zeigt die scheidende Landesbischöfin Ilse Junkermann und die Landeskirche wegen Glocken mit Nazi-Symbolik in Thüringer Kirchen an. Die Staatsanwaltschaft nimmt zwar keine Ermittlungen auf, weil es sich nicht um eine öffentliche Verwendung von NS-Zeichen handele.
Gossaer Kirchenrat beschließt - NS-Glocke soll schweigen
Doch in der Kirche sind sie alarmiert und fragen bei den Gemeinden nach: Wie ist das eigentlich bei euch? Vertreter betroffener Gemeinden werden zum Gespräch nach Erfurt gebeten. Schon vorher empfiehlt Junkermann, Glocken mit einschlägigen Symbolen nicht mehr zu läuten.
In Gossa folgen sie diesem Rat. Am 5. April, eine Woche vor dem Treffen in Erfurt, beschließt der Gemeindekirchenrat ohne Gegenstimmen: Die Glocke soll schweigen. Seitdem läutet nur noch die kleinere der beiden Glocken, die aus dem 13. oder 14. Jahrhundert stammt.
Der Beschluss sieht auch vor, dass eine neue Glocke für die Kirche gegossen werden soll. Der Arbeitstitel: Versöhnungsglocke. Und die Hakenkreuz-Glocke? „Am liebsten würden wir sie an ein Museum abgeben“, sagt Pfarrer Henning.
Gossaer Kirche geht offen mit alter Nazi-Glocke um
Neun Tage später macht er die Glocke und ihr Schweigen zum Thema der Sonntagspredigt. Im Gemeindeblättchen schreibt er einen Text dazu. Jetzt wissen zumindest die 129 Protestanten in der Kirchgemeinde Gossa-Schmerz, was da im Gossaer Kirchturm hängt.
Und was damit werden soll. Später wollen sie, wie Henning es nennt, auch noch „das Dorf einladen“. Also sich auch jenen erklären, die nicht kirchlich gebunden sind. Für die die Kirche und ihre Glocke aber vielleicht einfach zum Dorf gehören.
Man könnte sich fragen: Ist das nicht alles ein bisschen viel Aufwand? Für eine Glocke, die ohnehin niemand zu Gesicht bekommt, weil sie nicht öffentlich zugänglich ist? Die seit fast 85 Jahren unbeanstandet verlässlich geläutet hat? Warum soll sie das jetzt nicht mehr tun? Man könnte sagen: Ist doch bloß eine Glocke.
Pfarrer stellt klar: Kirchglocke hat immer Symbolik
Aber so einfach ist es eben nicht, findet Albrecht Henning. Der Pfarrer sitzt an einem großen Tisch im Gemeinderaum, der an die Kirche angebaut ist. Am Fenster stehen Mineralwasserflaschen, am Eingang zur Kirche liegen Broschüren aus. „Wir haben im Gemeindekirchenrat sehr lange diskutiert“, sagt Henning. Ratsfrau Sylke Born nickt. Sie haben verschiedene Optionen erwogen: Weiter läuten, als wäre nichts gewesen? Das Hakenkreuz einfach abflexen? Oder die Glocke schweigen lassen? Schließlich einigen sie sich auf letztere Variante.
Für Henning ist eine Glocke nicht einfach nur ein in Form gegossenes Stück Metall, gegen das ein Klöppel schlägt. Wie er das meint? Er lehnt sich zurück und erzählt die Geschichte von der Glockenweihe in Schlaitz. Vor ein paar Jahren bekam der Gossaer Nachbarort eine neue Glocke. „Da überlegt man sich vorher, was soll die Glocke ausdrücken, wie soll sie heißen?“, schildert Henning.
Sie wählten den Namen „Vater-unser-Glocke“, weil sie fanden, da ist alles drin. Dann kamen sie auf die Idee mit den Kinderhänden. Christenlehre-Kinder verewigten ihre Handabdrücke auf der Glocke. Ein schönes Bild, findet der Pastor, „als ob die Hände der Glocke Schwung geben“. Als die Glocke ankam in Schlaitz, feierten sie ein Fest.
Für Henning zeigt die Geschichte, dass eine Glocke immer etwas transportiert. Dass da immer etwas mitschwingt, über den Klang hinaus. In Form gegossenes Metall, aufgeladen mit Bedeutung.
Umgang mit NS-Kirchenglocke - Flucht nach vorn
In Schlaitz sind es die fröhlichen Kinder. Die Zukunft der Gemeinde, die in jedem Glockenschlag mitschwingt. In Gossa, so sieht es der Pfarrer, ist es das Hakenkreuz, nicht bloß als aufgeprägtes Stück Metall. Sondern als Symbol, unter dem sechs Millionen Juden ermordet worden sind. „Unter diesem Vorzeichen“, sagt Henning, „können wir die Glocke nicht mehr läuten.“
Die mitteldeutsche Landeskirche hat sich anfangs schwer getan mit dem Thema. Anfang des Jahres hieß es noch, die betroffenen Gemeinden würden nicht öffentlich gemacht. Erst nach dem Treffen Mitte April in Erfurt änderte sich das. Albrecht Henning verteidigt die Zurückhaltung: „Es ging nicht darum, etwas unter der Decke zu halten.“ Die Sorge sei aber groß gewesen, dass die Glocken das Interesse von Rechtsextremisten erregen.
Doch nun tritt die Landeskirche die Flucht nach vorn an und setzt auf Transparenz: Gemeinsam mit der Universität Jena und dem Eisenacher Lutherhaus plant sie eine wissenschaftliche Dokumentation der Nazi-Glocken.
Auch in Gossa haben sie schon recherchiert. Die Pfarrchronik berichtet von einer Festwoche, die 1934 zur Weihe der Glocke gefeiert worden war. Was sich nicht in den Archiven findet: Unter welchen Umständen das Hakenkreuz auf die Glocke kam. Vielleicht, weil das damals so normal war, dass niemand es für erwähnenswert hielt. „Die Leute wollten das so, auch hier in Gossa“, sagt Pfarrer Henning. Für ihn zeigt die Glocke auch, wie stark sich viele Menschen mit dem NS-Regime identifizierten: „Nationalsozialisten waren nicht bloß die anderen.“ (mz)