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Weltstar aus Halle: Der Dirigent Klaus Tennstedt Tenno am Pult

Von allen berühmten Dirigenten des 20. Jahrhunderts wohl der unbekannteste: Dem aus Halle stammenden Klaus Tennstedt widmet Georg Wübbolt eine Biografie.

Von Kai Agthe 03.08.2023, 16:41
Klaus Tennstedt bei Proben in München im Jahr 1978
Klaus Tennstedt bei Proben in München im Jahr 1978 (Foto: Imago/Michel Neumeister)

Halle/MZ - Der internationale Erfolg als Dirigent stellte sich für Klaus Tennstedt (1926-1998) erst spät ein, nach seiner Übersiedlung in den Westen 1971. Diesen Erfolg öffentlich zu zeigen, war ihm aber wichtig: Deshalb fuhr er ab den späten 1970er Jahren einen Rolls-Royce. Sieht man von fahrbaren Untersätzen der englischen Edelmarke einmal ab, hatte der Maestro nur noch eine weitere Leidenschaft: das Kettenrauchen. Und, nun ja, auch von diesen und jenen außerehelichen Affären berichten Weggefährten.

Heute gilt Tennstedt, der vor allem als Interpret der Sinfonien Gustav Mahlers Musikgeschichte geschrieben hat, als unbekanntester unter den berühmten Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Aus mehreren Gründen, wie Georg Wübbolt darlegt, der jetzt unter dem beredten Titel „Klaus Tennstedt: Besessen von Musik“ eine erste große Biografie vorlegt.

Dass man sich heute jenseits der Klassik-Foren kaum mehr an den Künstler erinnert, mag einerseits daran liegen, dass Tennstedt bereits Ende 40 war, als seine internationale Karriere begann – und diese aus physischen Gründen nur von kurzer Dauer sein konnte. Andererseits war Tennstedt auch keine charismatische Erscheinung wie etwa Herbert von Karajan, so dass er abseits der Bühne eher unscheinbar wirkte.

Durch Zufall Merseburger

Klaus Tennstedt ist ein Kind der Stadt Halle. Dass er in Merseburg geboren wurde, war Zufall. Seine hochschwangere Mutter war dort 1926 zu Besuch, als die Wehen einsetzten. „Ich bin nur zufällig in Merseburg geboren, fast in der Straßenbahn“, erinnerte sich Tennstedt mit einiger Heiterkeit.

Als heiter hatte er seine Kindheit und Jugend in Halle jedoch kaum in Erinnerung. Früh schon wird er vom Vater, der Konzertmeister im Orchester der Stadt ist, an Geige und Klavier herangeführt. Der will aus seinem Jungen ein Virtuosen machen. Als Schüler musste Tennstedt jeden Tag mehrere Stunden auf beiden Instrumenten üben, derweil seine Freunde Fußball spielten.

Die Strenge, mit dem Vater Hermann seinen Sohn zum Üben zwingt, habe Tennstedt zwar zu einem ausgezeichneten Musiker gemacht, aber auch traumatisiert. So sagte Anita Knoch, Tennstedts erste Ehefrau, zu dessen Biografen, dass Vater Hermann seinem Sohn Klaus zeitlebens „als forderndes Leitbild, strafend und belohnend wie ein alttestamentarischer Gott im Nacken“ gesessen habe. Dieses Leitbild habe Tennstedt so verinnerlicht, dass er später Orchesterproben stets mit äußerster Strenge absolvierte.

Von 1943 bis 1946 in Leipzig studierend, büxte der 20-Jährige mit seiner Frau Anita nach Würzburg aus, wo er versuchte, sich als Kaffeehausmusiker zu verdingen. Die Not der Nachkriegszeit treibt das Paar jedoch zurück nach Halle, wo Tennstedt ab 1948 stellvertretender Konzertmeister am Opernhaus Halle wird.

Das jahrelange Üben führte zu Problemen mit der linken Hand, weshalb er nicht mehr professionell Geige spielen kann. Dafür greift Tennstedt zum Taktstock: Trotz fehlender Erfahrung wird er 1954 erster Kapellmeister in Karl-Marx-Stadt, wo er seine zweite Frau Inge kennenlernte, 1958 Generalmusikdirektor an den Landesbühnen Sachsen und 1962 Generalmusikdirektor in Schwerin.

Zwar hoffte Tennstedt, als Dirigent einen Ruf nach Dresden, Leipzig oder Berlin zu erhalten, doch in Schwerin enden alle Karriere-Hoffnungen. Tennstedt war nicht nur „besessen von Musik“, sondern ein Kapellmeister, der wenig diplomatisch im Umgang Behörden und Musikern ist. In Schwerin wird Tennstedt – der zu cholerischen Anfällen neigte, wenn ihm bei Proben etwas missbehagte – vom Orchester „Tenno“ genannt. Das japanische Wort für Kaiser als Ausweis seiner künstlerischen Allmacht. Reizbar war Tennstedt indes nur, wenn es um die Musik ging, die ihm heilig war. „Durch Reibung entsteht Energie“, so sein Motto. Privat soll er indes pflegeleicht gewesen sein.

Keine Frage, Tennstedt war – das attestierten ihm zahllose Kritiker – ein exzellenter, ein großer Dirigent. Deshalb war ihm die DDR auch bald zu klein. Obwohl er hin und wieder Gastdirigate im Ausland übernehmen durfte, wollte Tennstedt mit den bedeutendsten Orchestern der Welt zusammenarbeiten, wie es sein Kollege Kurt Masur vormachte.

Gescheiterte Fluchtversuche

Daher plante Tennstedt mit zwei Schweriner Musikern sogar die Flucht im Faltboot nach Dänemark. Zwei Versuche scheiterten, ehe das Boot in der Ostsee war. Also nutzte Tennstedt 1971 ein Dirigat in Schweden, um sich in den Westen abzusetzen. Seine Frau Inge gelangte dann mit Hilfe einer West-Berliner Fluchthelfer-Organisation zu ihrem Mann.

Langsam, aber stetig wurde man in den 1970er Jahren in der westlichen Welt auf den Maestro aufmerksam, der zwar als schwierig, aber auch als vorzüglicher Orchesterleiter galt und als Dirigent in Oper und Sinfonie breit aufgestellt war. Besonders seine Lesart der Werke Mahlers, auf Einspielungen auch nachzuhören, begeisterte Publikum und Kritik. Die Spitze von Tennstedts Laufbahn war erreicht, als er 1983 zum Chefdirigenten des London Philharmonic Orchestras berufen wurde. Daneben war er – das sein größtes Glück – weltweit als gefeierter Gastdirigent unterwegs.

Der größte Schmerz indes verband sich für Tennstedt mit seiner Heimatstadt Halle: Heidi, seine Tochter aus erster Ehe, nahm sich, einer unglücklichen Liebe zu einem verheirateten Mann wegen, 1969, gerade 23 Jahre alt, das Leben. Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs sagte Tennstedt denn auch: „Wenn ich einen Wunsch in meinem Leben hätte, dann wäre es, fünf Minuten mit meiner Tochter zu verbringen.“

Georg Wübbolt: Klaus Tennstedt – Besessen von Musik, Eigenverlag, 292 Seiten, zahlr. Abb., 26,90 Euro