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Was also ist mein Land? Angela Merkel lässt sich im Schauspiel Leipzig befragen Talk mit Tulpe

Nur selten zeigt sich Angela Merkel öffentlich: Für ein Gespräch in Leipzig hat sich die Altkanzlerin kurz von der Niederschrift ihrer Erinnerungen gelöst.

Von Christian Eger 04.05.2023, 11:05
Leipziger Schauspiel: Angela Merkel und Giovanni di Lorenzo
Leipziger Schauspiel: Angela Merkel und Giovanni di Lorenzo Foto: schmidt/dpa

LEIPZIG/MZ - Nicht viel mehr als eine Stunde. Vielleicht 75, aber keinesfalls 90 Minuten. Das gebe die Sache nicht her, hatte Giovanni di Lorenzo vor der Veranstaltung Angela Merkel versichert. Der Journalist sollte recht behalten, wie im Anschluss die ehemalige Bundeskanzlerin amüsiert bemerkte, denn 90 Minuten seien es ja schließlich nicht geworden. Sondern fast zwei Stunden.

So lange antwortete Angela Merkel am Samstagabend auf der Bühne des Leipziger Schauspielhauses auf Fragen des Chefredakteurs der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Die vormalige, im Osten stark polarisierende Ex-Regierungschefin und der Chef einer im Osten wenig gelesenen Zeitung: In gesellschaftlicher Hinsicht ist das nicht eigentlich eine Punktlandung, aber doch ein Ereignis. Es war der Höhepunkt unter den Publikumsveranstaltungen der Buchmesse, die am Sonntag zu Ende ging. In nur zwei Tagen war der Talk ausverkauft.

Politik ist „labern“ können

Merkel auf der Buchmesse? Unter die Autorinnen geht die 68-Jährige erst jetzt, indem sie ihre politischen Memoiren verfasst, die im Herbst 2024 bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen sollen. In Leipzig wird sie zu ihrem Buch „Was also ist mein Land?“ (Aufbau Verlag) befragt. Das enthält im Kern die letzte Rede, die Merkel an einem Tag der deutschen Einheit hielt: 2021 in der Händel-Halle in Halle. Denkwürdig wurde die Rede, weil die vormalige CDU-Chefin erstmals öffentlich ihre ostdeutsche Herkunft thematisierte. Etwas, das sie zuvor vermied, um sich in ihrer Arbeit nicht angreifbar zu machen.

Angela Merkel in Leipzig: Von links betritt sie die im Hintergrund mit blauem Tuch verhängte Bühne, auf der zwei Sessel und ein Tisch mit zartrosa Tulpen stehen. Weißer Blazer, schwarze Hose. So sehr ist Angela Merkel ihrem Erscheinungsbild nach typisiert, dass man im ersten Moment vermutet, da trete Katharina Thalbach auf, die Angela Merkel spielt. Leibhaftig winkt sie ins Publikum, setzt sich auf den Sessel, wippt kurz mit den Füßen, bevor sie ihre Sitzposition findet. Stimme, Auftritt, alles wirkt verblüffend jung, unbefangen und uneitel. Das Publikum, dessen Taschen am Einlass kontrolliert worden waren, ist der Frau sichtlich zugetan.

Von der Welt- auf die Theaterbühne: Angela Merkel übt ihre neue Rolle als Zeitzeugin. „Ich denke, ich komme voran“, antwortet sie auf die Frage, wie weit sie denn inzwischen mit der Verwandlung in eine Bundeskanzlerin adé sei. Es gelinge ihr zwar noch immer nicht, unerkannt auf der Straße zu gehen, sagt sie, aber das werde schon noch kommen.

Giovanni di Lorenzo lenkt das Gespräch zuerst ins Persönliche. Was sie am meisten gefordert hätte beim Regieren? Der Zwang sich wiederholen zu müssen, sagt Merkel. Sie komme ja aus der Naturwissenschaft, da gelte das Wiederholen als ein Versagen, in der Politik sei es unumgänglich. Anfangs hätte sie „echt Mühe“ gehabt, „sieben Minuten mit Sprechen voll zu kriegen“. Einen „Schreck“ kriegte sie, als sie feststellte, „dass ich mühelos 45 Minuten labern kann“. Zum Publikum: „Ja, sie lachen, aber es stimmt!“ Eine Stimme im Saal: „Die ist so herrlich!“

Warum sie so lange gebraucht habe, um über sich selbst als Ostdeutsche zu reden? Sie habe keine Verletzlichkeiten zu Markte tragen wollen, sagt Angela Merkel. Di Lorenzo zitiert zwei Kostproben von dem, was da verletzt hat. Dass sie nur eine „angelernte Bundesdeutsche“ sei, schrieb 2020 der „Welt“-Herausgeber Thomas Schmid. Dass sie den „Ballast ihrer DDR-Biografie“ mit sich herum schleppe, hieß es im selben Jahr aus der Adenauer-Stiftung.

Eine Ostbiografie als „Ballast“. Und die Ansage, auch nach 30 Einheitsjahren nur eine „angelernte“ Deutsche zu sein. „Angelernt, also nicht einmal gelernt“, fasst Merkel für das Publikum zusammen. Dabei, sagt sie, sei ein „Ausbildungsschluss“ für dieses Anlernen nie genannt worden. Was zeigt sich in solchen Äußerungen? Sie sehe darin „eine Gedankenlosigkeit, die einfach in Abgründe blicken“ lässt, sagt Merkel. Wie sehr sie das anfasst, habe sie 2021 bei ihrer Rede in Halle gespürt: „dass mich das anspannt, wenn ich über mich spreche.“

Keine Fehler gemacht

Abgründe welcher Art? Aber genauer wird es nicht. Kann es auch nicht werden. Di Lorenzo thematisiert weder den Mangel an öffentlicher Teilhabe und Repräsentanz der Ostdeutschen, der sich ja in den Merkel-Jahren verfestigte, noch werden die jüngsten Debatten – Oschmann, Döpfner – erwähnt, was bei zwei Stunden Talk in Leipzig nicht nur möglich, sondern journalistisch geboten gewesen wäre. Vieles bleibt da nur durch die Blume, also hier durch die Tulpe gesagt, um die Befragte oder den Frager zu schonen.

Ob sie Mitverantwortung für die aktuellen Erfolge der AfD trage? „Ich habe politische Situationen zu bewältigen gehabt, die zu einer Spaltung der Meinungen in Deutschland geführt haben“, sagt Merkel. Erfunden habe sie die AfD allerdings nicht. Sie habe nach 1990 viel Glück gehabt, andere Ostdeutsche hätte es hart getroffen: „Eine solche Erfahrung musste ich nicht machen. Es wäre vermessen zu sagen, ich kann jeden verstehen.“ Aber: „Ein schweres Schicksal legitimiert nicht dazu, demokratische Prinzipien zu verletzen“. Der Saal applaudiert.

Warum es ihr nicht gelinge, im Rückblick Fehler zuzugeben, setzt di Lorenzo mehrfach an. Darauf lässt sich die Altkanzlerin nicht ein: „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es eine befriedende Funktion hat, wenn ich jetzt etwas, was ich nicht denke, einfach sage, nur damit ich jetzt einen Fehler zugebe.“

Was sie öffentlich zu sagen hat, wird sie 2024 mitteilen. „Klarheit Stück für Stück“ verschaffe ihr das Schreiben ihrer Erinnerungen. Wird es für das Publikum auch so sein? Angela Merkel baut schon einmal vor. „Es handelt sich auch um ein Sachbuch“, sagt sie. „Also keine falschen Erwartungen.“