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„Der Nussknacker“ in Dessau Einfach märchenhaft

Am Ende gibt es weiße Weihnachten: Stefano Giannetti inszeniert am Anhaltischen Theater das Ballett „Der Nussknacker“ nach der Musik von Peter Tschaikowski.

Von Roland H. Dippel 24.10.2023, 17:55
Leonor Campillo, Marcos Vinicius dos Anjos und der Kinderchor des Anhaltischen Theaters Dessau
Leonor Campillo, Marcos Vinicius dos Anjos und der Kinderchor des Anhaltischen Theaters Dessau (Foto: Claudia Heysel)

DESSAU-ROSSLAU/MZ. - Alles drin in der „Nussknacker“-Neuproduktion des Anhaltischen Theaters Dessau: Es gibt weiße Weihnachten und am Ende kommt das junge Hauptpaar in einem klassischen Ballett-Duo zusammen. Der von Ballettdirektor und Choreograph Stefano Giannetti beibehaltene Untertitel „Märchenballett“ ist also keine Mogelpackung. Er bestätigt als erste der beiden großen Premieren für die Zeit vor dem Jahresende das von Generalintendant Johannes Weigand formulierte Programm: Möglichst viel großes und spartenübergreifendes Theater für alle Altersgruppen mit Anspruch. Ab 20. November folgt das Weihnachtsmärchen „Aschenputtel“.

Kick in Richtung Gegenwart

Weigands Qualitätsforderung schreibt Giannetti wie selbstverständlich, stilistisch vielfältig und fast unauffällig, in das letzte der drei großen Ballette Tschaikowskis nach dem traurigen „Schwanensee“ und dem pompösen „Dornröschen“. Während einige Theater in letzter Zeit den „Nussknacker“ nach den Novellen von E.T.A. Hoffmann und Alexandre Dumas mit Tschaikowskis letzter Oper wie zu beider Uraufführung im Dezember 1892 am gleichen Abend spielen, folgt in Dessau „Der Nussknacker“ jetzt der Produktion von „Iolanta“. Beide Aufführungsgepflogenheiten – zusammen oder separat – sind berechtigt, denn in jedem der Werke steckt trotz ihrer Spieldauer von unter 90 Minuten Ohrwurmpotenzial für einen Abend von drei Stunden.

Giannetti und sein Dramaturg Yuri Collosale haben die originale „Nussknacker“-Handlung mit Heiligabend-Bescherung, nächtlichem Spielzeugkrieg, Reise ins Märchenland und Verherrlichung der schönen Illusionen erst genau überprüft und dann dezent Richtung Gegenwart gekickt. So mischen sich immer wieder lockere Schrittfloskeln in die gar nicht strengen, dafür sehr realitätsnahen Gruppenarrangements für die Ballettkompanie.

Der kleine Glaslüster zitiert die Entstehungszeit der Belle Époque, die schlichten Wände und das kleine Flugzeug das 20. Jahrhundert. Mit dem glatten silbernen Weihnachtsbaum setzt Bühnenbildner Moritz Nitsche eine Andeutung für die protzigen Ambiente gegenwärtiger Konsum-Umschlagplätze. Alles gerät sinnfällig – wie die Figuren und Persönlichkeiten treffsicher charakterisierenden Kostüme von Judith Fischer.

Frau und Herr Silberhaus haben überdeutlich eine Ehekrise. Sie (Carlotta Rocchi) shoppt, er (Martin Anderson) hat die Augen immer im Internet, gegenseitige Rücksichtnahme ist eher Zufall. Darauf reagiert Sohn Fritz (Marc Balló y Cateura) mit Überaktionismus und Tochter Klara (Leonor Campillo) mit tiefen Blicken in die Welt und Tagträumen. Klaras Traummann Drosselmeyer (Marcos Vinicius dos Anjos) kommt von draußen und schenkt ihr den titelgebenden Nussknacker. Natürlich wird die ganze Familie zur Soldateska der beiden Kriegsparteien in Klaras Traum – mit Ausnahme der rothaarigen Best-Ager-Großmutter (Kerstin Dathe auf einem Seitensprung neben ihrer Dessauer Figurentheater-Sparte).

Die in letzter Zeit etwas ins Kreuzfeuer der Rassismus-Kritik geratenen Folklore-Nummern des zweiten „Nussknacker“-Aktes gewichtet Giannetti mit Ernsthaftigkeit und trotzdem komödiantischem Geschick. Die Eltern wollen die seit der Begegnung mit „ihrem“ Drosselmeyer noch verträumtere Klara mit einer abgefahrenen Weltreise auf andere Gedanken bringen. Das geschieht jedoch anders, als sie denken.

In einem London ohne Nebel, das auch ein Amsterdam mit Narzissen und Tulpen sein könnte, begegnen sich Klara und Drosselmeyer zufällig wieder. Er entführt sie mit einem souveränen Pas de deux in ein neues Leben und eröffnet Klara die Chance, einiges anders zu machen als ihre Eltern.

Glanz und Frische

Diese lassen sie endlich los und kommen wieder vertraulich zusammen. Eine Zuckerfee muss also nicht eingreifen. Deshalb wirken der in der Schneeflocken-Szene mit großer Besetzung und bunter Montur singende Kinderchor in der Einstudierung von Dorsilava Kuntscheva definitiv kitschfrei. Das Wichtigste tritt ein: Der ins Jetzt flunkernde Gedankenüberbau mit einem kleinen Seitenhieb gegen die durch die Konsumwelt veränderte Kindheit belastet weder die tänzerische Leichtigkeit der besten Eindruck machenden Kompanie, noch trübt er das Ballettmärchen durch überflüssigen Ernst. Extraklasse dazu die Anhaltische Philharmonie.

Elisa Gogou akzentuiert Tschaikowskis berückend vitale Bläserstellen mit Glanz und mehr Keckheit als Melancholie. Die Streicher dürfen an den richtigen Stellen üppig schwelgen und auch jene Stellen werden erkennbar, an denen Tschaikowski sich auf starke Momente aus früheren Spitzenwerken wie etwa aus „Eugen Onegin“, „Schwanensee“ oder „Dornröschen“ besinnt. Das Premierenpublikum war begeistert, nur wenig fehlte zur lückenlosen Standing Ovation.

Nächste Aufführungen: 30. Oktober und 5. November, jeweils um 17 Uhr.