Kleinstadt in Sachsen-Anhalt Kleinstadt in Sachsen-Anhalt: Jeremy fällt aus der Rolle

Halle - Es ist beim Ball über die Schnur in der fünften Klasse passiert. Jungs Fußball, Mädchen Schnurball, legte der Sportlehrer fest. Jeremy Kolbe aber protestierte. „Mir war in dem Moment mehr nach Ball über die Schnur“, erinnert er sich, „aber der Lehrer meinte, du bist ein Junge, also spielt du Fußball.“ Punkt. Aus.
Das habe ihn nicht überzeugt, sagt Jeremy Kolbe heute, fünf Jahre später. „Ich habe mir von dem Tag an Gedanken gemacht, ob diese strikte Einteilung in Männer und Frauen wirklich sinnvoll ist.“ Kolbe, zartes Gesicht, große braune Augen, langes Haar und flatternder Blümchenpulli, spricht sehr überlegt, zugleich aber sehr bestimmt von seinem früheren Selbst. Ein Erwachsener mit fast noch kindlichen Zügen, der über ein Kind redet. Er sei damals zum Schluss gekommen, sagt er, dass eine strikte Einteilung nicht einzusehen ist. „Das sind nur Rollenbilder, die uns von außen zugewiesen werden, die muss man aber nicht annehmen.“
„Man stößt auf Widerstand“
Jeremy Kolbe, inzwischen 17 Jahre alt, hat für sich beschlossen, dass er nicht mitmachen wird. „Ich habe kein Problem mit meinem Körper“, sagt er, „aber ich werde nicht in einer Rolle leben, die andere für mich geschrieben haben.“ Mann. Frau. Irgendetwas dazwischen? Kolbe ist es nicht wichtig. Alles, was er sei, sei er. Mit dem Körper hat das nichts zu tun. „Damit habe ich kein Problem“, sagt Kolbe. Es geht ihm um die ganze Persönlichkeit. „Aus der werde ich nichts rauswerfen, nur weil es nicht in ein Bild passt, das sich die Gesellschaft von mir macht“.
In einer Kleinstadt wie Merseburg ist das eine Entscheidung, die Konsequenzen hat. Queer-Feminist zu sein und Transgender-Theorien zu lesen, mag noch möglich sein. Eine große Mehrheit der Menschen weiß ohnehin nicht, worum es dabei geht. Und wenn sie es wüsste, es würde sie vermutlich kaum interessieren. Aber als Junge in Mädchenklamotten auf die Straße zu gehen und einen anderen Jungen zu lieben? „Man stößt auf Widerstand“, wie Kolbe auf die seltsam unpersönliche Art formuliert, die er stets benutzt, wenn er über die Jahre spricht, in denen er als bunter Hund in der kleinen Stadt Zielscheibe zahlloser Angriffe war.
„Einfach nur, weil ich sage, ich möchte mein soziales Geschlecht selbst bestimmen.“ Es ist schwierig, schon rein sprachlich. Der Begriff „soziales Geschlecht“ wurde vor 60 Jahren vom US-amerikanischen Psychologen John Money erdacht, um den Zwiespalt zwischen körperlichen Merkmalen und innerem Fühlen bei Menschen zu beschreiben, bei denen das eine nicht zum anderen passt. Eine Minderheit, von der die übrige Gesellschaft kaum etwas weiß. Spricht Jeremy Kolbe darüber, dann klingt es trotzdem nach Alltagssprache. Der Junge im Strickpullover kann alles erklären, erläutern, die möglichen Geschlechter deklinieren und den modisch gewordenen Begriff Gender bis in die feinste Verästelung auseinanderklamüsern. Er verwendet oft Vokabeln wie „impliziert“, „kausal“ und „kohärent“. Er schmunzelt manchmal dabei. Aber lustig ist das alles trotzdem nicht.
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Kolbe hat viel gelesen über Geschlechterforschung und Transgenderstudien. Er will später mal Mathe und Informatik studieren. Vielleicht aber auch nicht, weil ihm das auch wieder so vorhersagbar scheint: Klug, macht Mathe. Jeremy Kolbe will keine Rolle spielen, die festgelegt ist. Für ihn ist klar, dass ein angepasstes Leben kein richtiges ist, keins sein kann. „Mir ist egal, wie andere leben, aber ich möchte auch von niemandem dafür verurteilt werden, wie ich leben will“, sagt er.
Eine Selbstverständlichkeit, von deren Scheitern in der Kleinstadt nicht nur Flüchtlinge erzählen können, sondern auch Transgender-Menschen wie Jeremy. „Ich bin häufig gerügt worden“, erzählt er. Das steife Wort „gerügt“, das er mit einem strichschmalen Schmunzeln benutzt, meint dabei alles vom „Angucken über Anpöbeln bis Zusammengeschlagenwerden“.
Im Schulchor waren es nur Papierkügelchen, mit denen sie nach ihm geworfen haben. Und „nicht so coole Sätze“ hätten manche über ihn gesagt. Kolbe hat weggehört oder das „konsequent durchdiskutiert“ mit denen, die ein Problem mit ihm hatten. Irgendwann war es vorbei. „Die haben mich akzeptiert, wie ich bin“, sagt er, der heute einer der Schulsprecher ist und seine „sehr soziale Klasse“ lobt.
Erst war er Feindbild für Gleichaltrige
Aber über Jahre, beschreibt Kolbe, sei er dann draußen „Mode“ gewesen, außerhalb der Schule, die zum geschützten Raum geworden ist. Erst war er Feindbild für Gleichaltrige, später auch für „Typen, die ich gar nicht kannte“. Die aber kennen ihn, Jeremy, den Typen, der kein Mann sein will. Die Stadt ist so klein, es gibt kein Verstecken. Transgender in der Provinz müssen wie alle anderen funktionieren, um nicht aufzufallen, sagt Janice Gruber aus Merseburg, die im Mai ihre OP hatte. „Ich war mehr Mann als andere, ich habe mehr getrunken und gerauft“, sagt die frühere Jörg, „ich wollte zeigen, dass ich ein Kerl bin.“
Jeremy Kolbe hat sich verweigert. Das reicht für drohende Blicke, gezielte Rempler oder für eine Hatz durch die Straßen. Kolbe hat in dieser Zeit festgestellt, „dass es ein Unterschied ist, ob eine Klasse einen mobbt oder die ganze Stadt.“
„Und das bloß, weil ich nicht auf Blümchen-T-Shirts verzichten möchte“, sagt Jeremy Kolbe, für den nie infrage stand, dass er sie weitertragen wird. „Man kann nicht nur reden, dass man es ernst meint mit der Freiheit, man muss auch standhaft sein und es vorleben“, sagt er irritierend ernsthaft.
Immerhin sei er ja noch am Leben und als der rationale Mensch, der er nun mal auch sei, in der Lage, zu sagen, dass „ich ohne all das nicht die Festung wäre, die ich heute bin“. Jeremy Kolbe fühlt sich stark. Er sagt, der Druck von außen habe bei ihm innere Klarheit zur Folge gehabt. Er weiß heute, wer zu ihm gestanden hat und wer nicht. „Meine Eltern hatten nie ein Problem damit, wie ich mich orientiere, nur die langen Haare, die haben sie anfangs gestört.“
Das ist vorbei, Jeremy Kolbes Leiden an der Kleinstadt noch nicht ganz. Aber bald wird er die Schule geschafft haben. Dann geht er zum Studium, am liebsten nach Halle. Dort fällt man nicht auf, wenn man als Mann ein Kleid trägt, sagt Kolbe. „Die Stadt ist viel offener Menschen wie mir gegenüber.“ (mz)