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Kampfansage an den Staat Kampfansage an den Staat: Das "Neue Forum" bringt 1989 die DDR-Spitze ins Straucheln

Von Steffen Könau 08.09.2019, 10:00
Offiziell tagen durfte das Neue Forum erst im November: Mitgründer Rolf Henrich (2. v.l.), Jens Reich und Bärbel Bohley in der Berliner Gethsemanekirche.
Offiziell tagen durfte das Neue Forum erst im November: Mitgründer Rolf Henrich (2. v.l.), Jens Reich und Bärbel Bohley in der Berliner Gethsemanekirche. Volker Döring

Halle (Saale) - Sie hatten lange diskutiert und geknobelt, skizziert und verworfen und umformuliert. Was dann da stand, nach einem Stasi-Bericht „im Rahmen einer langfristig vorbereiteten Zusammenkunft von ca. 30 Führungskräften personeller Zusammenschlüsse und weiteren feindlich-negativen Personen aus der Hauptstadt Berlin sowie den Bezirken Leipzig, Halle, Dresden, Magdeburg, Frankfurt/Oder, Potsdam und Schwerin“ in engen 59 Zeilen auf ein Blatt Schreibmaschinenpapier gequetscht, war eine Kampfansage an den SED-Staat DDR, wie es sie noch nie gegeben hatte.

„Neues Forum - Aufbruch 89“ überschrieben, startete der Aufruf an alle im Lande, die nicht mehr einfach so weitermachen wollten, mit einer bemerkenswerten Diagnose. „In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört“, hatten die Erstunterzeichner, darunter die beiden Hallenser Katrin und Frank Eigenfeld formuliert. Beleg dafür sei „die weit verbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung“.

„Neues Forum - Aufbruch 89“ prangert gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft an

Dabei könne von Not, Hunger und Gewalt als Fluchtgrund keine Rede sein. Vielmehr lähme „die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben“.

Das solle nun anders werden, deshalb bilde man gemeinsam „eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen“.

Dieses Neue Forum werde legal sein, weil es sich auf das in Artikel 29 der Verfassung der DDR geregelte Grundrecht aller Bürger berufe, durch gemeinsames Handeln in einer Vereinigung politische Interessen verwirklichen zu dürfen. „Die Zeit ist reif“, hieß es in dem federführend vom Mikrobiologen Jens Reich, von der Malerin Bärbel Bohley und dem Zwickauer Physiker Martin Böttger entworfenen Papier, mit dem die bis dahin meist versteckt agierende DDR-Opposition am 9. September 1989 zum ersten Mal offen auf die Bühne trat.

Stasi überwacht Gründung des Forums

Das Treffen der 30 Forumsgründer in Grünheide östlich von Berlin, wo der Dissident Robert Havemann bis zu seinem Tode im Hausarrest gelebt hatte, war dem Ministerium für Staatssicherheit nicht entgangen. Die Zentrale Informations- und Auswertungsstelle (ZIAG) des MfS hatte schon Anfang September vor Bestrebungen des „oppositionellen Untergrunds“ gewarnt, über eine breitere Aufstellung mehr Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen zu nehmen.

Jetzt weist die ZIAG in der mit „Streng geheim! Um Rückgabe wird gebeten!“ gestempelten Information Nr. 416/89 Mitglieder der SED-Führung wie Günter Mittag, Hermann Axen und die Bezirkschefs von Magdeburg und Halle, Werner Eberlein und Achim Böhme, auf das hin, was DDR-Ministerpräsident Willi Stoph schon Ende August im Politbüro einen „Großangriff des Gegners“ genannt hatte.

Im Bezirk Halle wird zur Gründung aufgerufen

Doch die Lähmung, die die Gründer des Neuen Forums attestierten, hatte längst auch auf die Staatssicherheit übergegriffen. Zwar wurde das Wohnhaus von Bärbel Bohley, an die Unterzeichner der Erklärung aus der ganzen DDR ihre Unterschriftenlisten schickten, penibel überwacht und jeder Wäschekorb mit Briefen notiert.

Doch Mielkes Männer bleiben im Auto. Es gibt keinen Versuch, Briefe zu beschlagnahmen oder ihre Zustellung zu verhindern, obwohl nach den Maßstäben des MfS eigentlich jeder einzelne Umschlag strafbar ist.

Auch aus dem Bezirk Halle, wo die Eigenfelds und andere Oppositionelle den Gründungsaufruf ab dem 11. September verbreiten, kommen Briefe. Am 19. September dann schicken die beiden Erstunterzeichner die formelle Anmeldung des Neuen Forums an den Rat des Bezirkes. Dort sorgt das Papier für so große Aufregung, dass sofort ein Fernschreiben an den Leiter der Hauptabteilung Innere Angelegenheit des Innenministeriums in Berlin abgeschickt wird, um Handlungsanweisungen zu erhalten.

MfS schlägt Antrag des Neuen Forums aus

Das MfS schlägt zur Bekämpfung der vermeintlichen „ideologischen Diversion“ durch das Neue Forum vor, den „Antragstellern im Rahmen der gesetzlichen Bearbeitungsfrist in einem persönlichen Gespräch mitzuteilen, dass ihrem Antrag nicht entsprochen wird, da für die beabsichtigte Gründung der Vereinigung kein gesellschaftliches Bedürfnis besteht“. Dem sei hinzuzufügen, dass es zur Wahrnehmung politischer und gesellschaftlicher Interessen in der DDR ja „bereits umfassende Organisationsformen“ gebe.

Offiziell wird diese strikte Ablehnung jedes Dialoges der Staatsführung mit den noch eher um ein Gespräch bittenden als Gehör fordernden Forumsgründern mit einer Kurzmeldung der staatlichen Nachrichtenagentur ADN. Darin heißt es, dass „ein von zwei Personen unterzeichneter Antrag auf Zulassung einer Vereinigung Neues Forum eingegangen, geprüft und abgelehnt“ worden sei. „Ziele und Anliegen der Vereinigung widersprechen der Verfassung der DDR und stellen eine staatsfeindliche Plattform dar.“

200.000 Menschen erklären schriftlich ihren Beitrittswillen

Damit sei auch eine Unterschriftensammlung zur Unterstützung nicht genehmigt und folglich illegal, teilt der Innenminister weiter mit, um allen Unterzeichnern zu drohen. Zu diesem Zeitpunkt haben mehr als 3.000 Menschen den Aufruf unterschrieben, bis Ende Oktober folgen in hunderten Wäschekörben weitere 200.000 Beitrittserklärungen.

Bärbel Bohley aber ahnt bereits, dass das Neue Forum seine Ziele trotz dieses Erfolges nicht wird erreichen können. Die Ignoranz der Regierung, sagte sie, lasse sie fürchten: „Wenn das so weitergeht, geht es mit der DDR bald zu Ende. “ (mz)

Das Neue Forum berief sich auf die DDR-Verfassung, wurde aber von den DDR-Behörden dennoch nicht erlaubt.
Das Neue Forum berief sich auf die DDR-Verfassung, wurde aber von den DDR-Behörden dennoch nicht erlaubt.
dpa